Lieber Samichlaus,

Von

|

Drucken Drucken

Von Luca Zacchei – Ich möch­te die­ses Jahr kei­ne Geschenke. Ich suche viel­mehr einen Gesprächspartner, und wenn mög­lich ein paar Antworten auf mei­ne Fragen. Mir ist bewusst, dass ich nur die­je­ni­ge Interpretation der Wahrheit ken­ne, wel­che ich mit mei­nen beschränk­ten Sinnesorganen bis­lang wahr­neh­men durf­te. Ich kann das Absolute ledig­lich erah­nen. Durch mein Seelen-Fenster sehe ich nur einen Bruchteil der Welt. Ich schaue aber durch das Fenster hin­durch, und beob­ach­te zu vie­le Künstler, die in Büros gefan­gen sind. Zu vie­le trau­ri­ge Gesichter mor­gens im Tram oder im Bus. Zu vie­le Menschen, die sich in ihrer Haut nicht wirk­lich wohl füh­len. Viele Masken, die unter­ein­an­der anony­me Blicke aus­tau­schen. Unzählige Eskapisten mit Kopfhörern, die ihre eige­ne Musik-Welt betre­ten, um der Realität zu ent­rin­nen. Und ich fra­ge mich: Wer ver­steckt sich hin­ter der Maske? Wer sind die­se Menschen? Wirklich nur ein Key Account Manager oder ein Distribution Channel Responsible? Oder in Wahrheit Personen mit ein­zig­ar­ti­gen und ange­bo­re­nen Qualitäten, die sie nicht aus­le­ben kön­nen? Und zu wel­chem Preis? Für ein Haus mit Hypothek, ein Leasing-Auto oder ein Kleid, das man nicht wirk­lich benö­tigt?

Ich gebe dir voll­kom­men Recht, lie­ber Samichlaus: Die Menschen sind nie zufrie­den mit dem was sie haben. Wie ich Dir bereits geschrie­ben habe: Ich ken­ne nur die­sen Ausschnitt der Realität, die Sicht aus mei­nem per­sön­li­chen Fenster. Kannst du mir aber bit­te erklä­ren, wie­so die Menschen im Tram so trau­rig sind? Wieso sie unzäh­li­ge Facebook-Freunde haben und sich trotz­dem ein­sam füh­len? Wieso Mütter ins Yoga eilen, um sich dort zu ent­span­nen? Wieso sich die Tages-Kliniken mit über­for­der­ten Seelen fül­len? Wieso 72-Stunden-Deos erfun­den wer­den? Wieso sich die Geschäftsführer von gewinn­brin­gen­den Unternehmen das Leben neh­men? Wieso sich Minderjährige mit Protein-Shakes voll­pum­pen? Wieso im Winter Erdbeeren ver­kauft wer­den und im Sommer die Fussball-WM in der Hitze Katars statt­fin­den wird? Wieso ver­nach­läs­sig­te Kinder von Patchwork-Familien rebel­lie­ren und mit Ritalin ruhig gestellt wer­den? Wieso Konzerthallen und Stadien zu moder­nen Pilgerstätten für des­ori­en­tier­te Menschenmassen mutie­ren? Wieso Unternehmen die Gewinne inter­na­li­sie­ren und die Gesundheitskosten der kran­ken Mitarbeiter exter­na­li­sie­ren?

Ob ich Lösungen vor­wei­sen kann, lie­ber Samichlaus? Ich den­ke, dass wir das alle kön­nen. In dem wir uns weh­ren. In dem wir acht­sa­mer wer­den. In dem wir die Verantwortung für unse­re Entscheidungen über­neh­men und nicht nur «das System» stig­ma­ti­sie­ren. Der Kunde hat bei­spiels­wei­se nicht immer Recht. Ich möch­te, dass die Migros mich ruhig erzieht! Sie kann mir erklä­ren, wie­so es an Weihnachten nur Mandarinen und kei­ne Erdbeeren gibt. Und wie­so im Tiefkühlregal kei­ne Seezungen zu fin­den sind, weil das Risiko der Überfischung zu gross ist. Ich möch­te mich bes­sern und acht­sa­mer wer­den. Dafür brau­che ich aber mehr Ruhe-Oasen und eine trans­pa­ren­te Information. Und auch Verbote, wenn es sein muss. Wenn ich mir ein Auto nicht lei­sten kann, dann soll­te ich mich hier­für auch nicht ver­schul­den kön­nen. Und Kaffee-Kapseln kön­nen von mir aus pro­blem­los teu­rer wer­den. Ich will aber eine Zusicherung, dass der kolum­bia­ni­sche Bauer davon pro­fi­tiert, und nicht die Multinationalen oder der Händler dazwi­schen.

Wir brau­chen neue Ansätze, Samichlaus. Versteh mich bit­te nicht falsch! Für mich ist die Selbstverwirklichung kei­ne uto­pi­sche Spielerei für ver­wöhn­te, west­li­che Gesellschaften. Es geht nicht dar­um, wei­te­re, mate­ri­el­le Wünsche zu befrie­di­gen. Für mich ist Selbstverwirklichung gleich­zu­set­zen mit der gerech­ten Vision, die eige­ne Berufung zu ent­decken und zu leben. Das Erreichen des­sen, was tief in einem steckt. Und das kann die Leidenschaft für die Töpferei oder fürs Busfahren sein. Oder die Liebe für die Gartengestaltung und das pas­sio­nier­te Backen von Torten. Oder all das zusam­men. Menschen sind doch viel­fäl­ti­ger als star­re Stellenprofile! Wenn sie zu dem wer­den, was sie wirk­lich sind, kön­nen sie gleich­zei­tig ein nütz­li­cher Teil der Gemeinschaft sein. Ich habe das Gefühl, dass heut­zu­ta­ge in den west­li­chen Gesellschaften vie­le Stellen zwar gut bezahlt wer­den, aber im Grunde genom­men nicht pro­duk­tiv sind. Stellen, wel­che der Positionierung in inter­nen Machtkämpfen die­nen, aber nicht unbe­dingt einem gesell­schaft­li­chen Nutzen ent­spre­chen. Aufgaben, wel­che die Gewinne maxi­mie­ren, aber nicht zum per­sön­li­chen Glück der Menschen bei­tra­gen.

Bin ich zu naiv, lie­ber Samichlaus? Es fühlt sich so an, wie wenn die Menschheit Jahr für Jahr ihre Träume aufs Neue ent­sor­gen wür­de. Nebst zusam­men­ge­drück­ten Blechdosen und zer­split­ter­ten Flaschen wer­den ledig­lich unse­re Finger kleb­ri­ger. Glücklicherweise blei­ben aber immer noch ein paar Träume übrig, wel­che wir im näch­sten Jahr wie­der­ver­wen­den kön­nen. Wahrscheinlich des­halb sind Träume gra­tis! Sie wer­den bis in alle Ewigkeit recy­clet. Ich habe die Hoffnung nicht auf­ge­ge­ben, dass wir es eines Tages schaf­fen wer­den. Schritt für Schritt. Wenn du das Gefühl hast, ich wür­de jetzt über­trei­ben, dann kannst du die­sen Brief an Schmutzli wei­ter­ge­ben. Er wird mich viel­leicht bes­ser ver­ste­hen. Frohe Adventszeit, lie­ber Samichlaus!

Illustration: Rodja Galli / www.rodjagalli.com
ensuite, Dezember 2013

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo