Friedhöflich

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Von Luca Zacchei – Unsere Schritte knir­schen auf dem Kiesweg. Mutter hat uns bereits abge­hängt und läuft wei­ter vor­ne. Meine Schwester und ich albern her­um und Vater inter­ve­niert prompt «Psssst! Seid still, hier ruhen die Toten!» Das Lachen ver­geht uns abrupt. Aber ich ver­ste­he nicht ganz, wie wir die Toten mit unse­rem Lärm stö­ren soll­ten. Wecken kön­nen wir sie sowie­so nicht. Mutter trägt weis­se Chrysanthemen in der rech­ten Hand, Vater hin­ge­gen eine qual­men­de Zigarette. Meine Schwester erkun­digt sich, ob der Rauch die Toten nicht stö­ren wür­de. «Ich glaub schon», behaup­te ich. «Wenn Vater mit offe­nem Fenster in der Küche raucht und die Türe schliesst, stört das Mutter im Wohnzimmer sehr wohl. Der Rauch kommt über­all hin­durch. Selbst durch die Ritzen der Grabnischen.» Vater schaut mich böse an, drückt aber den Zigarettenstummel mit dem rech­ten Fuss aus.

«Caterini Bindestrich Martinelli Francesca, neun­zehn­hun­dert­sie­ben bis neun­zehn­hun­dert­sechs­und­sech­zig» murm­le ich und zäh­le im Kopf das Lebensalter nach. Die Frau hat auf dem Foto zusam­men­ge­bun­de­ne Haare und ein Muttermal auf der Nase. «Sala Giovanni, neun­zehn­hun­dert­dreiund­reis­sig bis neun­zehn­hun­dert­acht­zig» trägt hin­ge­gen Hut und Schnauz. Er schaut uns grim­mig an. Wahrscheinlich weil sei­ne Blumen ver­trock­net sind. «Papà, wofür ist die Leiter mit den Rädern da?» fra­ge ich nach. «Damit die Besucher auch bei den obe­ren Grabnischen fri­sche Blumen hin­stel­len kön­nen. Mit den Rädern kannst du die Leiter ent­lang der Wand vor- und zurück­schie­ben.» Am Ende der Kieselstrasse steht ein klei­nes Haus. «Familie Tarantino» steht dar­auf ein­gra­viert. «Ist das eine Kirche?» fragt mei­ne Schwester. «Es ist eine Kapelle», ant­wor­tet Vater. «Die Reichen wol­len selbst nach ihrem Tod unter ihres­glei­chen blei­ben und sich nicht mit dem Pöbel durch­mi­schen. Dort ist die gesam­te Familie Tarantino begra­ben.» Eine schö­ne Kapelle, den­ke ich. Zwei stei­ner­ne Engel bewa­chen mit ihren Schwertern den Eingang, obwohl bereits ein Metallgitter den Eintritt ver­un­mög­licht. Die Familie Tarantino hat­te zu Lebzeiten wahr­schein­lich auch Wachhunde oder eine Alarmanlage, um ihr Haus zu schüt­zen. Gewisse Muster und Verhaltensweisen blei­ben ver­mut­lich nach dem Tod bestehen.

Mutter flü­stert uns zu: «Kommt! Ich habe eure Urgrossmutter gefun­den». Wie sie wohl aus­sieht? Ich bin neu­gie­rig. Auf dem Foto hat sie fet­te Backen und sieht eigent­lich ganz gesund aus. «Wie ist sie gestor­ben?» fra­ge ich. «Sie war ein­fach alt». Rechts vom Foto steht eine klei­ne, stin­ken­de Vase mit einem sil­ber­nen Kreuz dar­auf. Mutter möch­te, dass wir die Vase beim Brunnen aus­wa­schen und fri­sches Wasser rein­fül­len. Wenn ich›s mir über­le­ge, habe ich noch nie einen ech­ten Toten gese­hen. Wie sind sie wohl gestor­ben, all die­se Menschen hier? Einfach alt? Einfach erschos­sen? Einfach ein Autounfall? Oder wie unser Klassenlehrer, der ein­fach mit einer «schlim­men Krankheit von uns gegan­gen ist», wie die Erwachsenen zu pfle­gen sagen? Die Vase ist bereits voll und das Wasser quillt über. Ich war mit mei­nen Gedanken weit weg und habe mir den Ärmel der Jacke nass gemacht. Ich lass ein biss­chen Wasser raus­lau­fen und Mutter stellt dann mit Sorgfalt die Blumen rein.

Mutter schlägt vor, dass wir beten und die Toten ehren. Sie wei­len näm­lich nach ihrem Tod immer noch unter uns. «Wofür soll ich beten? Ich kann­te Urgrossmutter über­haupt nicht.» Mutter erwi­dert, wir sol­len dafür beten, dass sie uns beschützt. «Dann beten wir doch für uns, und nicht für sie. Oder nicht?» Ich sei ein Besserwisser, meint Vater. Ich soll doch beten, was mir gera­de in den Sinn kommt und gleich­zei­tig die Klappe hal­ten. Es sei wohl nicht zu viel ver­langt, wenn im Friedhof ein Moment des Andachts herr­schen wür­de. Ich schaue mei­ne Fussspitzen an und über­le­ge mir: Soll ich die Urgrossmutter duzen? Besser nicht. Ich war heu­te schon genug respekt­los. «Guten Tag, Frau Maiorani. Wie geht es Ihnen? Oh, wie dumm von mir. Sie sind ja schon eine Weile tot. Ist ihr Grab-Nachbar sym­pa­thisch? Ein ruhi­ger Typ, sagen Sie? Und gefal­len Ihnen unse­re Blumen? Ein biss­chen lang­wei­lig? Kann ich gut ver­ste­hen. Aber die Floristin mein­te, die sei­en ange­bracht. Welche Lieblingsfarbe haben Sie eigent­lich, Frau Urgrossmutter? Rot? Dann neh­men wir das näch­ste Mal doch noch die roten Tulpen oder Mohnblumen mit. Ah, fast hät­te ich›s ver­ges­sen: Könnten Sie uns bit­te in näch­ster Zeit beschüt­zen, so qua­si als Gegenleistung für die Blumen? Das wäre lieb, dan­ke!» Den letz­ten Satz habe ich mög­li­cher­wei­se laut aus­ge­spro­chen. Meine Schwester lacht laut und Vater fin­det es über­haupt nicht lustig. «Ich bin nicht so höf­lich, gell Papà. Nicht fried­höf­lich genug.» Gut, dass ich schnell reagie­re und mir mein Vater im Friedhof nicht hin­ter­her­rennt. Spätestens beim Auto, draus­sen vor dem Tor, ist aber Endstation. Ich wer­de eine ordent­li­che Tracht Prügel erhal­ten. Aber weit weg von den Toten. So kön­nen sie wei­ter­hin fried­lich ruhen.

Illustration: Rodja Galli / www.rodjagalli.com
ensuite, November 2013

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