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Von Fabienne Naegeli – Zwei Spaziergänge durch die mensch­li­che Psyche, Urban Gaming zwi­schen Realität und Fiktion sowie eine Abrechnung mit der Kulturbranche:

Um 1900, als der Schriftsteller Robert Walser ent­täuscht aus Berlin in die Schweiz zurück­kehr­te, schrieb er sein ein­zi­ges Mundartwerk «Der Teich». Fritz, den Protagonisten des Dramoletts, plagt die schreck­li­che Ahnung, dass sei­ne Mutter ihn nicht liebt. Nach die­ser Entdeckung ver­liert er das Vertrauen in sei­ne Urteilsfähigkeit, ist ande­ren Menschen gegen­über ver­un­si­chert und fin­det sich in der Welt nicht mehr zurecht. Von Selbstmitleid durch­drun­gen zieht er sich immer mehr aus der ihm fremd und unheim­lich gewor­de­nen Umgebung zurück. Um die Aufmerksamkeit und Zuwendung sei­ner Mutter zu errin­gen sowie sei­nen Verdacht zu über­prü­fen, insze­niert der ori­en­tie­rungs­lo­se und in sei­nem Identitätsbewusstsein erschüt­ter­te Junge sei­nen Selbstmord. Er wirft sei­nen Hut in den Teich. Faszinierend an Walsers Kurz-Stück ist, dass alle Figuren die glei­che Stimme sind, wodurch eine Art schi­zo­phre­ner, inne­rer Dialog ent­steht. Darüberhinaus schei­nen die Charaktere stell­ver­tre­tend für den jun­gen, zwei­feln­den Walser selbst zu ste­hen. 400asa, die 1998 gegrün­de­te Gruppe rund um Regisseur Samuel Schwarz, macht aus die­sen Familienszenen mit bio­gra­phi­schem Ansatz ein Spaziergänger-Theater vom Tag in die Nacht, durch Grenzzonen von Stadt und Natur. Wie Walser, der Ruhe und Zerstreuung auf sei­nen Gewaltsmärschen durch Wald und Wiesen such­te, durch­wan­dert das Publikum Orte, die auf­grund des Walser Texts zu einem «Hirn-Raum der Stimmen» wer­den. Mit redu­zier­ten Theatermitteln und der Konzentration auf Stimmungen des Stücks erfährt das Publikum in «Der Teich» eine ande­re Art der Aufmerksamkeit, und erlebt die Landschaft durch Walsers gesun­de wie auch kran­ke Augen.

Im Rahmen der Reihe «Wem gehört die Stadt? – Fiction and the City» laden 400asa mit «Der Polder – Das Game» zu Audiowalks zwi­schen Welten ein. Die mul­ti­na­tio­na­le Unterhaltungsfirma NEURO‑X stellt Games her. Sie hat einen revo­lu­tio­nä­ren Prototypen ent­wickelt, «Das rote Buch», das sich nun in der Testphase befin­det. Bei die­sem Game wird das Gehirn der UserInnen gescannt, deren Wünsche und Sehnsüchte her­aus­ge­le­sen, und dar­aus ein UserInnen-spe­zi­fi­sches Abenteuer gene­riert. An den Tests nimmt auch ein spiel­süch­ti­ger Junge teil, der auf­grund des Games para­no­id gewor­den ist. Er hat Angst, dass sich das Spiel wie eine Epidemie aus­brei­ten, die Gesellschaft dadurch ver­rückt und zukünf­tig nichts mehr real sein wird, son­dern alles nur noch Fiktion. Dagegen muss er etwas unter­neh­men. Um dem trau­ma­ti­sier­ten Jungen zu hel­fen und sein Unterbewusstsein zu beein­flus­sen, müs­sen wir MitspielerInnen mit den Figuren in sei­ner Psyche inter­agie­ren. Mittels der «Polder»-App, die man vor Spielbeginn her­un­ter­la­den muss, kön­nen wir die­ses Ziel errei­chen. Auf einem Trip durch die Stadt tref­fen wir auf GPS gesteu­er­te oder manu­ell aus­lös­ba­re Audiotracks und begeg­nen ech­ten Spielfiguren. Der Auftakt zu die­sem trans­me­dia­len Grossprojekt wird durch den öster­rei­chi­schen Philosophen Robert Pfaller gestal­tet, für den das Spiel, sobald es die Realität sus­pen­diert, der Schlüssel zur Lebensfreude dar­stellt. Für ihn haben Spiele die posi­ti­ve Eigenschaft, dass sie Energien kana­li­sie­ren, die man in sich trägt. Über drei Jahre kann man nun die Story von «Der Polder – Das Game» ver­fol­gen. Gestartet wird in Bern, eine Fortsetzung ist in Zürich geplant, und abschlie­ßend soll die Geschichte zu einem Kinofilm wei­ter­ent­wickelt wer­den. Auch Walsers «Teich» will 400asa in naher Zukunft für «Der Polder» zu einem GPS gesteu­er­ten Audiowalk umge­stal­ten.

Nach Hobby‑, Hebbel- und Kneipen-Hamlet kommt nun «Knüselhamlet», benannt nach dem ehe­ma­li­gen Direktor der Pro Helvetia, Pius Knüsel. Der Kultur-Populist ver­öf­fent­lich­te ver­gan­ge­nes Jahr mit drei Kollegen das pole­mi­sche Buch «Der Kulturinfarkt». Darin wird behaup­tet, dass der Kulturbetrieb kurz vor dem Kollaps ste­he. Das sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Konzept «Kultur für alle» sei geschei­tert und die Subventionskultur, wie sie heu­te exi­stiert, gehö­re abge­schafft. Die Kunstschaffenden und KulturvermittlerInnen sol­len wie UnternehmerInnen den­ken, sich an der Nachfrage ori­en­tie­ren und markt­ge­recht pro­du­zie­ren. Alles muss um die Hälfte gekürzt und ins­be­son­de­re die Kosten radi­kal mini­miert wer­den. Nach Knüsel & Co.’s Marktgesetzen und mit dem Ziel, sich von den staat­li­chen Unterstützungsgeldern zu befrei­en, bear­bei­te­te 400asa Hamlet. Solch gro­ße, kanon­wür­di­ge Stoffe sol­len schließ­lich nicht nur der bür­ger­li­chen, gut situ­ier­ten Elite, son­dern jedermann/frau zugäng­lich sein. Dazu wur­de die Ensemble-Größe und Stücklänge redu­ziert. Hamlet wird von drei Darstellern gespielt, wel­che gleich­zei­tig die Rollen von Ophelia, Polonius usw. über­neh­men, klei­ne­re Nebenrollen spielt der Musiker. Das Stück dau­ert konsumentInnenfreundliche 60 Minuten, ist weder sper­rig noch unan­ge­nehm, son­dern ori­en­tiert sich am Humor der brei­ten Masse. Allerdings kön­nen ein paar kri­ti­sche Nebenbemerkungen über den Kulturbetrieb nicht ganz aus­ge­schlos­sen wer­den.

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2013

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