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Von Thomas Kohler – Viele Amerikanerinnen und Amerikaner besit­zen ein bewun­derns­wer­tes Talent: Es gelingt ihnen, tref­fen­de Ausdrücke für Neues zu prä­gen. Das jüng­ste Beispiel dafür heisst G.A.S. Die Abkürzung steht nicht für pein­li­che Flatulenzen, son­dern für «gear acqui­si­ti­on syn­drom». Dieses Syndrom haben Menschen, die mehr Gerätschaften kau­fen, als sie benö­ti­gen – viel mehr. Vor allem unter Männern gras­siert das G.A.S.-Virus.

G.A.S. ist eine Art von Krankheit, eine hoch anstecken­de sogar. Betroffene wis­sen, wie rich­tig das ist. Nur sehr stark Betroffene igno­rie­ren die­se Tatsache. Wenn sie in den Verdacht gera­ten, unter G.A.S. zu lei­den, reagie­ren sie säu­er- bis ärger­lich und strei­ten alles ab.

Aber man erkennt sie den­noch: G.A.S.-Betroffene, oft auch «gear­heads» genannt, tra­gen die Anzeichen ihrer Erkrankung ger­ne mit sich her­um – oder geben damit an. Ein häu­fi­ges Erscheinungsbild sind Männer, die vor dem Bauch eine sünd­haft teu­re Kamera bau­meln haben. Oder Supersportler, die stets mit dem neu­sten und teu­er­sten Rennvelo auf­kreu­zen. Das sind weder Rekord-«Gümmeler» noch neue Starfotografen. Sie wol­len ein­fach nur ein klei­nes Extra-Glückserlebnis aus ihrer kost­ba­ren Ausrüstung quet­schen – indem sie sich damit wich­tig machen.

G.A.S. im Auto Das Virus tritt natür­lich auch im Bereich der rasan­te­ren Fortbewegung auf. Wer sein Auto mit Reifen im Mülleimerformat bestückt, an Bug und Heck auf­fäl­li­ge Spoiler-Plastikflossen mon­tiert und die Mitmenschen mit stamp­fen­den Bässen aus sei­ner rol­len­den Stadion-Beschallungsanlage beein­druckt, lei­det bestimmt am G.A.S.-Virus. Seit Jahrzehnten pro­fi­tiert die Zubehörindustrie bestens von den Anstrengungen die­ser Raser, die sich selbst oft als «Drifter» bezeich­nen. Auch Hollywood erkann­te den Trend und hat schon meh­re­re Drifter-Epen im Kasten (mit Stars wie Vin Diesel und Jason Statham).

Auch die Ausrüstung der Foto-Gearheads ist durch­aus kost­spie­lig. Einige Kamerahersteller haben den Drang ihrer Klientel, stets das neue­ste Material zu hor­ten, fein­sin­nig erkannt und stat­ten ihre Apparate mit mehr Prestige als tech­ni­schen Finessen aus. Das Zauberwort heisst «Sondermodell». Kameras mit Titan- oder Goldveredelung wer­den abge­löst von mini­mal ver­än­der­ten Ausgaben, die von Modedesignern ent­wor­fen wer­den. Dass im Innern die­ser Bling-Bling-Apparate tech­nisch so man­ches ver­al­tet ist, inter­es­siert kaum. Die Kamera wird zum Schmuckstück ­– wört­lich, nicht im über­tra­ge­nen Sinne. Sogar Fälscher wur­den dar­auf auf­merk­sam: Es exi­stie­ren Nachahmungen von «Sondermodellen», die histo­risch kor­rek­te Prägeschriftzüge tra­gen. Ein Beispiel dafür sind ver­gol­de­te Pseudo-Leicas aus rus­si­scher Fertigung mit der Inschrift der Olympischen Spiele Berlin 1936, die auch auf Schweizer Internetmärkten anzu­tref­fen sind.

Der Trick funk­tio­niert nicht nur mit Sondermodellen, son­dern auch mit neu­en Kameras, die sich durch gering­fü­gig­ste (und meist längst fäl­li­ge) Verbesserungen aus­zeich­nen. Dass das klappt, gewähr­lei­stet die ein­schlä­gi­ge Fotopresse: Sie jubelt jedes My an tech­ni­scher Neuausstattung gna­den­los hoch. Mehr noch: Sie erkennt gera­de in die­sem Lobgesang zuneh­mend ihre Existenzgrundlage. Vor Jahrzehnten lag das Interesse der Fotoheftmacher noch weit­ge­hend dar­in, ihren Leserinnen und Lesern bemer­kens­wert gute Fotos zu prä­sen­tie­ren. Die Werke talen­tier­ter Fotografinnen und Fotografen fin­den inzwi­schen jedoch nur noch sel­ten Eingang in die Hochglanzhefte. Kein Wunder: Betroffene des G.A.S.-Virus machen den Primärnutzen ihrer Kameras ohne­hin im Herumzeigen statt im Fotografieren aus. Wer das nicht glaubt, soll­te sich in den ein­schlä­gi­gen Foto–Foren im Internet umse­hen. Seitenlang wird da über ver­meint­li­che opti­sche Schmuckstücke debat­tiert. Dabei liegt deren Unterschied im Vergleich zum Vorgängermodell in vie­len Fällen ein­zig in der Verdoppelung des Einkaufspreises. Technischer Fortschritt wird zur Chimäre – oder lässt sich nur noch unter spe­zi­fi­schen, pra­xis­fer­nen Bedingungen aus­lo­ten.

G.A.S.-Betroffene stört das natür­lich nicht. Sie machen aus jeder neu­en Mücke bereit­wil­lig einen Elefanten. Hauptsache die Gleichgesinnten bewun­dern oder benei­den sie gebüh­rend. G.A.S.-Opfer gibt es natür­lich auch im Bereich der Computer oder Handy-Telefone. Statt auf Verbundstoffe wie beim Velo pochen sie auf Speichergrösse oder Geschwindigkeit im Internet. Ob das letzt­lich sinn­voll ist, bleibt zweit­ran­gig.

Sammler: Ähnliche Symptome Es ist nicht immer ein­fach, G.A.S.-Opfer aus­zu­ma­chen, denn eine ande­re gros­se Gruppe weist ähn­li­che Symptome auf: die der Sammler. Oberflächlich betrach­tet ähneln G.A.S.-Betroffene den Sammlern oder Sammlerinnen stark. Aber es gibt kla­re Unterschiede. Ein G.A.S.-Opfer will immer die neu­ste und teu­er­ste Ausrüstung besit­zen. Sammlerinnen und Sammler hin­ge­gen wol­len ihre Sammlung ver­voll­stän­di­gen. Beides kann rui­nös sein. Ein bemer­kens­wer­ter Unterschied besteht jedoch dar­in, dass Sammlerinnen und Sammler alle ihre Stücke innig lie­ben und kei­nes davon mis­sen möch­ten. Keine Frau mit über­quel­len­dem Schuhschrank wird sich etwa mir nichts, dir nichts von einem älte­ren Modell tren­nen. Einem G.A.S.-Opfer hin­ge­gen ist das zweit­be­ste Stück sei­ner Kostbarkeiten kaum noch etwas wert. Ältere Exemplare ver­stau­ben ohne­hin auf dem Regal oder ver­gam­meln in der Garage. Sie die­nen besten­falls dazu, den Kauf der näch­sten Neuerrungenschaft finan­zie­ren zu hel­fen und wer­den via Internetmarkt hem­mungs­los ver­scher­belt.

Hinzu kommt: Sammelleidenschaft und G.A.S. prä­gen das Verhalten der jewei­li­gen Betroffenen unter­schied­lich. Eine Sammlerin oder ein Sammler wird sel­ten mit sei­nen Besitztümern ange­ben – schon um Einbrechern kein Ziel zu bie­ten. G.A.S.-Opfer blü­hen hin­ge­gen erst im Freundeskreis, in Vereinen oder in Foren auf. Sie freu­en sich am Prestige, das ihre Apparate ihnen ver­lei­hen und suchen die Öffentlichkeit. Das stil­le Geniessen des Sammlers bleibt ihnen unver­ständ­lich.

Musiker im Visier Das bedeu­tet frei­lich nicht, dass der Kauf eines teu­ren Apparates oder kost­spie­li­gen Werkzeugs grund­sätz­lich Ausdruck einer Sucht ist. Aber wer unun­ter­bro­chen Jagd auf das neu­ste Werkzeug oder Instrument macht, outet sich klar als G.A.S.-Opfer. Offensichtlich wird das bei den Gitarren. Prinzipiell müss­ten Musikerinnen oder Sammler auf gute Klangeigenschaften oder opti­ma­le Bespielbarkeit ihrer Instrumente ach­ten. G.A.S.-Betroffene hin­ge­gen kau­fen auch Gitarren unter­schied­li­cher Farben. Und auch die Instrumentebauer haben den Trick mit den Sondermodellen schon ver­in­ner­licht – allen vor­an die US-Gitarrenfabriken Fender und Gibson. Die berühm­ten Hersteller wer­fen fleis­sig Sondermodelle auf den Markt. Gibson etwa lan­cier­te 1994 eine Sonderserie von Gitarren zum 100-Jahre-Jubiläum. Gebaut wur­den die Instrumente in einer Miniauflage von 400 Exemplaren pro Modell. Alle Gitarren tru­gen einen klei­nen Diamanten als i‑Tüpfelchen im Gibson-Schriftzug am Kopfende. Der Stückpreis war trotz erheb­li­cher Unterschiede im Konstruktionsaufwand für alle Instrumente gleich: Astronomische 15’000 Franken muss­ten die Käufer hin­blät­tern. Dennoch war die Serie noch vor Ablauf des Jahres 1994 aus­ver­kauft. Am Trostpflästerchen allein kann es nicht gele­gen haben: Gibson leg­te jedem Jubel-Instrument noch einen Goldring mit dem Firmenlogo als Prägestempel bei.

Der ame­ri­ka­ni­sche Psychologe und Erkenntnistheoretiker Jeremy Sherman befasst sich seit gerau­mer Zeit mit G.A.S. und bezeich­net sich selbst als ehe­ma­li­ges Opfer. Der Grund: Sherman ist Hobby-Musiker. Eines Tages merk­te er, dass er zwar Spitzeninstrumente in gros-ser Zahl besass, aber kaum noch übte. «Es gibt Millionen von uns», schreibt Sherman im Net. «Statt her­aus­zu­fin­den, was wir musi­ka­lisch wirk­lich drauf haben, schmücken wir uns mit Luxusinstrumenten.»

Foto: Thomas Kohler
ensuite, März 2013

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