Politik, die

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Von Frank E.P. Dievernich - Lexikon der erklä­rungs­be­dürf­ti­gen Alltagsphänomene (XVII): Seien wir ehr­lich: Organisieren ist Politik. Und zwar immer dann, wenn das in einem sozia­len Umfeld geschieht, wenn also min­de­stens zwei Personen zusam­men­kom­men, die so etwas wie einen eige­nen Willen, oder zumin­dest die Illusion davon haben. In dem Moment, wenn die Ideen diver­gie­ren, braucht es, um Einigkeit her­zu­stel­len, ein mini­ma­les poli­ti­sches Agieren, in dem anti­zi­piert wird, wie man zusam­men kom­men kann, ohne gleich davon spre­chen zu müs­sen, wie man den ande­ren gekonnt über den Tisch zieht. So gese­hen eta­bliert sich schnell der gesam­te orga­ni­sier­te Kontext (Kindergarten, Schule, Hochschule, Militär, Unternehmen, Selbsthilfegruppe, etc.), in dem wir uns qua­si selbst­ver­ständ­lich bewe­gen, als ein poli­ti­sches Ausbildungscamp. Einzig die expli­zi­te Ausweisung als sol­ches fehlt. Man könn­te mei­nen, wir wären dafür geschult. Weit gefehlt, wenn man dem Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft Paul Krugman Glauben schenkt. So postu­liert er, dass wir nicht unter einem Mangel an bestimm­ten Fähigkeiten, son­dern an einem Mangel an poli­ti­scher Durchschlagskraft lei­den. In Folge des­sen glaubt er nicht an das Argument von Strukturproblemen, dass Arbeitnehmer die fal­schen Fähigkeiten am fal­schen Ort haben, son­dern dar­an, dass sie die­se poli­tisch nicht durch­set­zen kön­nen. Sehr wohl ist es der Kontext, der mass­geb­lich zulässt, wel­che Fähigkeiten zum Einsatz kom­men und wel­che nicht. Politisches Agieren respek­ti­ve poli­ti­sche Durchschlagskraft muss sich vor allem und in erster Linie auf den Kontext bezie­hen, will man jene Fähigkeiten aus­spie­len, die man in den Jahren auf den gesell­schaft­li­chen und orga­ni­sa­tio­na­len poli­ti­schen Schlacht- und Spielfeldern ent­wickelt hat. Und genau das ist der «miss­ing link» in der gan­zen poli­ti­schen Diskussion: Das wirk­li­che poli­ti­sche Spiel beginnt auf der Makro-Ebene, in dem an dem Kontext gear­bei­tet wird, und eben nicht bloss auf der Mikro-Ebene, in dem man in gege­be­nen Pfaden ver­sucht, sein klei­nes Spiel zu gewin­nen. Soll also Politik wirk­lich einen Unterschied machen, dann muss man wis­sen, wie auf der Makro-Ebene ange­setzt wer­den muss. Ein Beispiel aus der Unternehmenspraxis der Mitarbeiterführung und –Entwicklung: In den mei­sten Unternehmen herrscht die Vorstellung, dass Kompetenzen und soge­nann­te Potenzialträger (Menschen mit Fähigkeiten für das Mehr an Leistung und Karriere) nach einer Gaussschen Kurve nor­mal­ver­teilt sein müs­sen. Die Gausssche Normalverteilung kann dabei als kom­ple­xi­täts­re­du­zie­ren­de Struktur ver­stan­den wer­den, da sie eine Unterscheidung vor­gibt, mit der Führungskräfte sich in Folge nur mehr um die ersten und/oder die letz­ten 10% ihrer Mitarbeiter küm­mern müs­sen. Das redu­ziert den Kommunikationsaufwand erheb­lich. Problematisch wird die Gausssche Normalverteilung dann, wenn es a) zu einem künst­li­chen Zurückschneiden von Personen, Selbsteinschätzungen, Wertigkeiten und Fördermöglichkeit kommt und b) die Organisation die­se Kompetenzen eigent­lich benö­tigt, nicht aber weiss, dass sie vor­han­den sind, oder die­se ver­liert, weil die Personen nicht im Fokus der ersten 10% sind und damit als unbe­ob­ach­tet gel­ten. Der Kontextzwang, dass Führungskräfte eine sol­che Unterscheidung (gute/schlechte Mitarbeitende) als Personenzuschreibungen tref­fen müs­sen, ver­hin­dert, dass der Kontext, in dem die Mitarbeitenden die­se Leistungen zei­gen, nicht mehr gese­hen wird. Ob nun die Betrachtung einer Gaussschen Normalverteilung dazu führt, dass Kompetenzen ent­deckt und geför­dert wer­den oder eben nicht ist das eine, es bleibt dabei jedoch die Frage, wann jemand sich als kom­pe­tenz­stark oder ‑schwach prä­sen­tiert. Das Problem, mit dem wir es zu tun haben, ist die Zuschreibung von Kompetenzen und Eigenschaften auf Personen. Nur zu leicht spre­chen wir von Mitarbeitenden, die als «Schwachleister» titu­liert wer­den. In Windeseile mani­fe­stiert sich die­ses Bild von einem lei­stungs­schwa­chen Mitarbeitenden: erst als Gerücht, und dann als eine «Tatsache», die dazu führt, dass jede neue Führungskraft die­sen Mitarbeitenden gleich zu Beginn sei­ner Beobachtungsspanne kri­tisch betrach­tet, bzw. im Auge behält. Das Ende vom Lied kann nur die sich selbst erfül­len­de Prophezeiung sein. Die aus­schliess­li­che Betrachtung von Kompetenzen, die den Kontext aus­sen vor lässt, bringt folg­lich wenig. Was Unternehmen, kon­kret Management und Führungskräfte, ler­nen müs­sen, ist, den ent­spre­chen­den Kontext bei einer Kompetenzeinschätzung mit zu berück­sich­ti­gen. An die­ser Stelle der Argumentation kommt dann die feh­len­de poli­ti­sche Durchschlagskraft an den Tag. Es braucht im Management jenes Verständnis, wel­ches bis­lang lei­der nur in den hoch­glanz­bro­schier­ten Leitbildern zu fin­den ist. Dort ist näm­lich fast uni­so­no nach­zu­le­sen, dass die Mitarbeitenden das wich­tig­ste Kapital, den Mittelpunkt des Unternehmens dar­stel­len. Das tat­säch­li­che inter­ne orga­ni­sa­tio­na­le und füh­rungs­tech­ni­sche kom­mu­ni­ka­ti­ve Verhalten ent­spricht dem aber bei Weitem nicht. Es braucht also nicht die für die Führungskräfte kom­ple­xi­täts­re­du­zie­ren­de und ver­ein­fa­chen­de Mitarbeiterbetrachtung unter der Form einer Gaussschen Normalverteilung, son­dern einen auf das Individuum ori­en­tier­ten Blick. Das ernst zu neh­men bedeu­tet, dass Führungskräfte den Schwerpunkt ihrer Arbeit in Kommunikation, in Human Ressourcen-Förderung, in «enact­ment» ver­le­gen. Das bedeu­tet aber auch, sie von der all­täg­li­chen, rein fach­spe­zi­fi­schen Arbeit zu ent­la­sten, die ihnen immer noch auf­ge­bür­det wird, weil unaus­ge­spro­chen die Haltung exi­stiert, dass Führung ohne wei­te­res «neben­bei» betrie­ben wer­den kann. Vor allem aber braucht es eine poli­ti­sche Entscheidung, dass die indi­vi­du­el­le Mitarbeiterförderung (und deren Konsequenzen) als lang­fri­sti­ges Handeln im Unternehmen auch getä­tigt wer­den darf. Dazu braucht es Zeit, den Kontext zu erfor­schen, der zu einer ganz bestimm­ten Kompetenzausprägung des Mitarbeitenden führt. Eine sol­che Form der Personalförderung zu betrei­ben, bedeu­tet, eine Entscheidung für Langfristigkeit zu tref­fen; kurz­fri­sti­ge Gewinne kön­nend damit nicht erzielt wer­den. Es braucht poli­ti­sche Durchschlagskraft, sich für eine sol­che Komplexität zu ent­schei­den und dann auch dabei zu blei­ben. Management und Führungskräfte müs­sen sich dem Risiko aus­set­zen, den kom­ple­xi­täts­re­du­zier­ten und geord­ne­ten Raum zu ver­las­sen. Nur so kann Führung ihre Künstlichkeit ver­lie­ren, die der Realität und Komplexität von Organisationen, ihren Menschen, sowie der Gesellschaft, in der das Ganze statt­fin­det, ent­spricht. Es braucht eine Politik, die end­lich den Kontext attackiert. Wir haben lan­ge genug auf der Mikro-Ebene geübt, es wird Zeit an das Grosse zu gehen.

*bewirt­schaf­tet vom Fachbereich Wirtschaft der Berner Fachhochschule, www.wirtschaft.bfh.ch, Kontakt: Frank.Dievernich@bfh.ch sowie www.dievernich.com

Foto: zVg.
ensuite,  August 2012

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