EDITORIAL Nr. 110: Generationen

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Von Lukas Vogelsang – Der Klubkultur in Bern geht’s mies. Grotesk an der Situation ist, dass die VeranstalterInnen nicht über lee­re Häuser kla­gen. Nein, es sind die Behörden und PolitikerInnen, die nicht wis­sen, was sie mit dem jün­ge­ren Publikum anstel­len sol­len. Lärm ist das Problem. Und der Lärm um Lärm wird zum Problem für jün­ge­re Menschen.

Sit rueig!
Sit rueig!
Dir chönn­tet öpper schtö­re!
Sit rueig!
Sit rueig!
Süsch isch’s denn gly pas­siert!

Auch das Rauchen ist so ein Problem: Qualmen bit­te nur noch vor der Türe, aber lys­li, und bit­te nicht so stin­kend. Trinkt nicht so viel, sonst ver­pin­kelt ihr uns noch die Stadt und macht Lärm. Und schreibt nicht wie­der Sprüche an die Wände.

Herrgott nomol, ghö­re­ter nüt?
Undedra het’s au no Lüt!

Wer am Freitag Abend Mitternacht durch die Stadt geht ent­deckt ein «Bern», wel­ches tags­über nicht sicht­bar ist. Von wegen «in Bern läuft nichts»! Über 1‘000 Junggebliebene und Jugendliche tum­meln sich in der soge­nann­ten Clubbing-Meile zwi­schen Bierhübeli, Reitschule, Arbergergasse, Rathausgasse, bis in die Matte run­ter. Es gibt in Bern unter­des­sen 24 Moonliner-Linien, wel­che an den Wochenenden pro Jahr ca. 200‘000 Nachtschwärmer trans­por­tie­ren. Mit den aktu­el­len Club-Schliessungen erhal­ten wir bald das Problem, dass die­se Nachtschwärmer auf der Strasse blei­ben müs­sen. Wenn es nach der SVP gin­ge wür­de die Hälfte die­ser jun­gen Menschen bereits jetzt statt sich vor der Reitschule zu ver­sam­meln die Ladenhauptstrassen unsi­cher machen. Oder was den­ken Sie, lie­be LeserInnen, was eine Horde Jugendliche, ange­trun­ken und ener­gie­ge­la­den, aus Langeweile alles anstel­len kön­nen? Erinnern Sie sich an Ihre eige­nen jun­gen Jahre. Ich bin sehr froh, dass wir eine Reitschule haben und ich bin dank­bar für all die Clubs, wel­che wah­re Sozialtreffs gewor­den sind.

Schtellet die Kassette lys­er
Dänket chli a s Fröilein Wyser!
S wird nid tschutt­et uf der Schtäge!
Wie män­gisch mues ech das no säge?

Die Politik und die Behörden von Bern müs­sen über die Bücher. Es ist nicht so, dass die «Jugend von heu­te» ein Problem wäre. Wir alle sind das Problem. Mütter und Väter erzie­hen Kinder, wel­che irgend­wann gegen die Wertvorstellungen rebel­lie­ren. So läuft dies Generationen nach Generationen. Doch was geschieht, wenn die Eltern die Träume ihrer Jugend leben und die Kinder und Jugendlichen in der Realität zurück­las­sen? Die rebel­lie­ren­de näch­ste Generation ver­sucht jeweils die Welt bes­ser, nach ihren Vorstellungen zu kre­ieren. Hier ent­steht die Fehlermeldung. Es ist eine Bildungs- und Kulturaufgabe – nicht die Aufgabe von einem Jugendamt – aber am besten löst man die Aufgabe gemein­sam.

Wir müs­sen uns ein­ge­ste­hen ler­nen, dass wir nicht fähig sind, der näch­sten Generation unse­re Kultur wei­ter­zu­ge­ben. Vor 30 Jahren stell­te das Theater eine Bewegung dar, doch wir haben ein Unterhaltungsprogramm dar­aus gemacht. Unsere Grossväter lie­ben heu­te Rock’n’Roll und tan­zen dazu – Punkmusik hat nichts mit Rebellion zu tun, ist kul­tu­rell salon­fä­hig gewor­den. Man trinkt dazu Prosecco. Elektronische Musik wird sogar in der moder­nen Oper gespielt – und wenn nicht auf der Bühne, so dann sicher in der Lounge. Wir lesen Fussballbücher und spre­chen über Literatur – «Tintensaufen» muss Spass machen. Aber wir haben es nicht geschafft, der näch­sten Generation etwas von unse­rer Kultur mit­zu­ge­ben – wir geben ihr Ritalin. Im Gegenteil: Wir las­sen sie in den Gassen hän­gen und wis­sen nicht, was wir mit ihnen anstel­len sol­len. Wir wis­sen nicht, wie wir sie unter­hal­ten könn­ten. Aber die Frage, ob wir das über­haupt müs­sen, stel­len wir uns nicht.

Schreiet nid nach Jugendhüsli!
Dörft scho schreie, aber lys­li!
Herrgott nomol, ghö­re­ter nüt?
Rächts vo euch het’s au no Lüt!

In unse­rem eige­nen Jugendwahn haben wir der Jugend den Platz weg­ge­nom­men. Mit 50 wol­len wir die glei­chen Rechte haben wie unse­re Enkelkinder. Das macht kon­fus. Schlimmer noch: Wir ver­bie­ten 40 Jahre nach dem gros­sen 68er-Lärm den Folgegenerationen, sel­ber Lärm zu machen.

Was bekla­gen wir uns also, wenn die Kulturinstitutionen sich lang­sam ent­lee­ren, das anspruchs­vol­le­re Kulturprogramm nur noch eine hand­voll Fantasten inter­es­siert? Unser Begriff von Kultur wird weder zu Hause noch in der Öffentlichkeit dis­ku­tiert – wir reden an diver­sen Podiumsdiskussionen nur über Geld. Die Medien haben den Kulturdialog ein­ge­spart. Man will sich unter­hal­ten – nicht kul­tu­rell-intel­lek­tu­ell anöden. Als Editorialschreiber von ensuite erhal­te ich am mei­sten Reaktionen von LeserInnen, die sich dar­über bekla­gen, dass ich Kultur in Frage stel­le.

Wir haben jetzt Millionen-Budgets ber­ei­ge­stellt, damit wir Kultur ver­mit­teln kön­nen – dabei ist der Begriff Kulturvermittlung nicht wirk­lich defi­niert. Wir set­zen die­ses Geld ein, damit Kulturschaffende mit den Jugendlichen krea­tiv sind. Mehr ist uns nicht in den Sinn gekom­men. Ein erschrecken­des Bild einer doch so gebil­de­ten Zivilisation.

Höret uf mit Randaliere!
Me sett ech all i d Limmat rüe­re!
S wird nid blütt­let uf de Schtrosse
Süsch schlöm­mir euch zu Brei und Sosse!

Sit rueig!
Sit rueig!
Dir chönn­tet öpper schtö­re!
Sit rueig!
Sit rueig!
I glaub, es isch scho pas­siert!

Fragmente vom Lied «Sit rueig!», Franz Hohler, Fernsehsendung Denkpause 1980, auch auf «Hohler kom­pakt»
Zytglogge ZYT 4133


Foto: zVg.

Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 110, Februar 2012

 

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