«Sederunt Principes»

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Von Sandro Wiedmer – Steamboat Switzerland Extended Ensemble pres­ents: «Sederunt Principes» für Orgel-Trio und acht Bläser mit Kompositionen von Perotinus Magnus, Hermann Meier und Marc Kilchenmann.

Avant-Core nennt das 1995 gegrün­de­te Trio Steamboat Switzerland von Dominik Blum (Hammond-Orgel, Keyboards, Electronics), Marino Pliakas (e‑Bass, Electronics) und Lucas Niggli (Drums, Percussion) sei­ne Musik, eine ener­gie­ge­la­de­ne, viel­schich­ti­ge Angelegenheit mit Elementen aus Jazz und Improvisation, Metal und Progressivem Rock, Neuer E‑Musik und Noise. Der Name, der fälsch­li­cher­wei­se an eine behä­bi­ge Dixieland-Kapelle erin­nern könn­te, stammt dabei von Adolf Wölfli, der in sei­nem epi­schen Gedicht «Von der Wiege bis zum Graab» den Dampfer Swizerland den Rhein hin­un­ter fah­ren lässt, wobei jedes durch­quer­te Land unter­geht und am Schluss nur der Dampfer übrig­bleibt. Gar so zer­stö­re­risch sind die Drei aller­dings nicht, auch wenn sie Grenzen nie­der­reis­sen, das Gewohnte über Bord wer­fen, Strukturen auf­lö­sen. Im Gegenteil: neben zahl­rei­chen wei­te­ren Projekten, in wel­che die Musiker invol­viert sind, und ihrer Arbeit als Trio ent­ste­hen auch immer wie­der krea­ti­ve Zusammenarbeiten mit ande­ren Musikern, sei es, dass sie deren Kompositionen umset­zen, sei es, dass sie das Instrumentarium erwei­tern. So haben sie schon Material des Briten Sam Hayden, des Holländers Jan-Bas Bollen, der Amerikanerin Ruth Crawford, der Schweizer Michael Wertmueller und Stephan Wittwer, des Holland-Amerikaners David Dramm zum Klingen gebracht, für des­sen Werk «Orange Slice» (2002) die Formation ver­dop­pelt wur­de, die zwei Bässe, zwei Orgeln und zwei Schlagzeuge mit drei Bläsern ergänzt, oder für «Large Composition No. 1» (2003) des Schweizers Felix Profos, wel­ches mit einem sie­ben­köp­fi­gen Extended Ensemble zur Aufführung gebracht wur­de.

Nun steht also ein wei­te­res Projekt für Steamboat Switzerland Extended Ensemble an, eine Zusammenarbeit mit dem Berner Musiker und Komponisten Marc Kilchenmann, wel­cher unter dem Titel «Sederunt Principes» Adaptionen je eines Werkes von Perotinus Magnus (ca. 1160 ‑1220) und von Hermann Meier (1906 – 2002) für die vor­lie­gen­de Formation, das Hammond-Trio ergänzt durch acht Bläser, mit der Uraufführung sei­ner eige­nen Komposition «egre­go­ros» zu einem abend­fül­len­den Programm ver­schmelzt. Entgegen der Tendenz zur Spezialisierung strebt Kilchenmann die Ausübung des Musikerberufs als Generalist an. So ist er, nach dem Abschluss sei­ner Studien am Fagott mit dem Solistendiplom und der Komposition bei Urs Peter Schneider, gleich­zei­tig Orchestermusiker als Mitglied der basel sin­fo­ni­et­ta, Kammermusiker im Ensemble Antipodes und bei La Strimpellata, Fagott-Lehrer, Dozent an der Hochschule der Künste Bern, Komponist, und als Verleger betreut er beim aart ver­lag die Gesamtausgaben der Werke der bei­den radi­ka­len Komponisten Hermann Meier und Urs Peter Schneider.

Nach dem Abschluss eines elf­tei­li­gen Kompositions-Zyklus zu Textfragmenten aus dem Werk des Existentialisten Albert Camus hat Kilchenmann um die 2007 eine neue Serie von Werken begon­nen. Acht Kompositionen und acht Konzeptstücke sol­len sich jeweils auf einen ande­ren vor­so­kra­ti­schen Philosophen des anti­ken Griechenland bezie­hen, mit den Themen der Unendlichkeit zum einen, dem Zustand unse­rer Umwelt zum ande­ren im Mittelpunkt. Den Beginn mach­ten «aer/pneuma» nach Anaximenes, und «ideai/kenos» nach Demokrit, mit «egregoros/katheudon» nach Heraklit kommt nun der drit­te Teil des Werkkörpers zur Aufführung. Dem Philosophen, von des­sen Lehren nur Zitate aus spä­te­ren Texten ande­rer Autoren über­lie­fert sind, wur­de wegen der nicht leicht zu ent­schlüs­seln­den Botschaften bereits in der Antike der Beiname «der Dunkle» zuge­dacht, und sei­ne Thesen sind bis heu­te Gegenstand kon­tro­ver­ser Interpretationsversuche. So steht zum Beispiel sein berühm­te­ster Ausspruch «pan­ta rhei» – «alles fliesst» –, Ausdruck des ste­ti­gen Wandels, im dia­lek­ti­schen Spannungsfeld zu sei­nen Aussagen, wonach «alles eins ist», «alles gleich bleibt». In die­sem Zusammenhang steht sein Energieerhaltungssatz, durch die moder­ne Physik bestä­tigt, im Zentrum von Kilchenmanns Komposition: Die Energie als Erhaltungsgrösse, die durch in einem geschlos­se­nen System statt­fin­den­de Prozesse weder erzeugt noch ver­min­dert wer­den kann. Es soll mit «egre­go­ros» ein Werk ent­ste­hen, des­sen Gesamtenergie sta­bil, wel­ches jedoch nie sta­tisch bleibt, wobei die Tempostruktur in Form ver­schie­de­ner Wellenlängen die Energie dar­stellt, wel­che auf sämt­li­che musi­ka­li­sche Parameter ange­wandt wird. Mit sinus­för­mi­gen Tempoveränderungen arbei­tend, wel­che in den ein­zel­nen Instrumenten unab­hän­gig ablau­fen, hat sich hier die Frage der Aufführbarkeit des Werkes gestellt. Diese zu ermög­li­chen hat der Komponist mit Philippe Kocher zuam­men­ge­ar­bei­tet, Dozent am Institute for Computer Music and Sound Technology der ZHdK, wel­cher eine Software ent­wickelt hat, die den InterpretInnen via Bildschirm-Dirigent die zu spie­len­den Tempi ver­mit­telt.

Eingebettet und kon­tra­stiert wird «egre­go­ros» mit den Adaptionen von zwei Werken sin­gu­lä­rer Grossmeister, Perotinus Magnus und Hermann Meier, wel­che eben­falls als Uraufführungen zu hören sein wer­den. Perotinus Magnus, über des­sen Leben ähn­lich Heraklit nichts über­lie­fert ist bis auf die Aussagen sei­ner Epigonen, war ein Pionier der Polyphonie, indem er die bis anhin gebräuch­li­chen zwei­stim­mi­gen Choräle um drit­te und vier­te Stimmen erwei­ter­te, wodurch die freie Rhythmik des gre­go­ria­ni­schen Gesanges nicht mehr anwend­bar war, zur Ordnung des Gesamtablaufs die ein­zel­nen Stimmen fest rhyth­mi­siert wer­den muss­ten. Das adap­tier­te Werk «Sederunt Principes» wur­de am St. Stephans-Tag (26. Dezember) 1199 zur Einweihung eines neu­en Flügels der Kathedrale Notre Dame in Paris ur-auf­ge­führt, an deren Klosterkirche Perotinus als Magister fun­gier­te. Nicht weni­ger, als dass es für zeit­ge­nös­si­sche Interpretinnen und ZuhörerInnen eine Herausforderung dar­stell­te wie bei Perotinus, des­sen Rezeption von «erha­be­ner Schönheit» bis zu «geschmack­lo­sem Lärm» reich­te, lässt sich über das Oeuvre von Hermann Meier sagen, wel­cher, gera­de für die Verhältnisse sei­ner Heimat Schweiz sei­ner Zeit der­mas­sen vor­aus war, dass es schlicht unbe­ach­tet blieb. So muss­te Meier über vier­zig Jahre auf die ersten Uraufführungen zwei­er sei­ner 28 (!) Orchesterwerke war­ten. Dabei bie­ten sei­ne Kompositionen gros­se Parallelen mit den­je­ni­gen bedeu­tend jün­ge­rer Exponenten wie Boulez, Stockhausen, Ligeti, Erkundungen seri­el­ler und punk­tu­el­ler Techniken führ­ten bereits in den 50er-Jahren zu Clusterkompositionen, und in den 70er-Jahren wand­te er sich der Geräuschkomposition und der elek­tro­ni­schen Musik zu. Erst Mitte der 80er-Jahre mach­te sich das Ensemble Neue Horizonte Bern unter der Leitung von Urs Peter Schneider ver­dient um die Verbreitung sei­nes Werkes; wie Kilchenmann ein Schüler Schneiders ver­öf­fent­lich­te der Steamboat-Keyboarder Dominik Blum 2001 eine CD mit Arbeiten für Solo-Piano, und auf Initiative von Kilchenmann brach­te die basel sin­fo­ni­et­ta 2010 zwei sei­ner Orchester-Werke zur Aufführung.

Dass eine eher zufäl­li­ge Begegnung der bei­den Schüler von U.P. Schneider, Blum und Kilchenmann, zur Entstehung des Projektes bei­getra­gen hat, mag als erhei­tern­de Klammer zum Ereignis gese­hen wer­den, wird doch, auf einer eher abstrak­ten Ebene, das Prinzip der Energie-Erhaltung bestä­tigt: Da wird acht­hun­dert Jahre alte Musik in Rock-Gefilde trans­po­niert, da wird zeit­ge­nös­si­sche Komposition auf Erkenntnissen anti­ker Philosophen grun­diert und mit­tels IT-Technologie umge­setzt, da wird Unerhörtes hör­bar gemacht, einen unüber­hör­ba­ren Bezug zur aktu­el­len Realität schaf­fend.

 


Dominik Blum – Hammondorgel
Lucas Niggli – Percussion
Marino Pliakas – bass
Donna Molinari – Klarinetten
Ernesto Molinari – Klarinetten
Raphael Camenisch – Saxophone
Philipp Stäudlin – Saxophone
Nenad Markovich – Trompete
Matthias Spillmann – Trompete
Dirk Amrein – Posaune
Patrick Crossland – Posaune

Bilder: «Notenblatt» und Steamboat / Foto: zVg.
ensuite, Januar 2012

 

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