Nachricht aus einem ande­ren Amerika

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Von Lane Arye – Bericht aus der Werkstatt von Occupy Wallstreet: Vor kur­zem führ­te ich ein Gespräch mit einer Gruppe von Organisatoren und Aktivistinnen der «Occupy Wall Street»-Bewegung (OWS) über ihre Eindrücke aus ver­schie­de­nen Teilen der USA. Sie inter­es­sier­ten sich dafür, wie mei­ne Erfahrungen als Therapeut, Konfliktarbeiter und «Worldworker»(1) für die Mitglieder der Bewegung hilf­reich sein könn­ten. Nach unse­rer Telefonkonferenz ermun­ter­ten sie mich, die­sen Artikel zu schrei­ben.

Die OWS wird von vie­len Seiten kri­ti­siert. Die Kritik kommt eben­so aus den Reihen der alt­ein­ge­ses­se­nen sozi­al enga­gier­ten Organisationen wie von den Kommentatoren in den Mainstream-Medien.

Von unse­ren Kritikern kön­nen wir immer auf min­de­stens zwei Arten etwas ler­nen. Sie kön­nen uns einer­seits hel­fen, bes­ser zu wer­den, indem sie uns auf­zei­gen, wo wir wirk­lich etwas ändern soll­ten. Andererseits kann ihre Kritik para­do­xer­wei­se ein Zeichen sein, dass wir dafür, wofür wir kri­ti­siert wer­den, noch nicht genug ein­ste­hen. So gese­hen zei­gen uns unse­re Kritiker Stärken auf, von denen wir noch gar nicht wis­sen, dass wir sie haben.

Nehmen wir ein Beispiel: Die Generalversammlungen (GV) bie­ten eine Gelegenheit zum Auftreten für Menschen, die gehört wer­den und etwas bei­tra­gen wol­len, ohne dabei dar­auf zu ach­ten, wel­che Wirkungen sie auf die tau­send Leute haben, die zuhö­ren. So wur­de kürz­lich eine GV von einer klei­nen Gruppe fru­strier­ter Männer kur­zer­hand über­nom­men, indem sie die gan­ze Versammlung beschimpf­ten und bedroh­ten. Auch in weni­ger dra­ma­ti­schen Situationen sind die mei­sten GVs mit Meinungen, wider­sprüch­li­chen Aussagen und Wiederholungen voll­ge­stopft, weil alle unbe­dingt per­sön­lich gehört wer­den wol­len.

Eine Kritik an die­sen Zuständen ist sicher rich­tig. Ja, west­li­cher Individualismus kann pro­ble­ma­tisch sein und es ist nie zu spät um zu ler­nen, an die Gemeinschaft zu den­ken. Aber viel­leicht hat die­ser Individualismus auch etwas Schönes an sich. Die Menschen haben das Gefühl, dass sie end­lich auch über Wirtschaft reden kön­nen, dass ihre Stimme wich­tig ist, dass sie nicht die Klappe hal­ten und irgend­wel­chen Grossmäulern im Fernsehen zuhö­ren müs­sen, die mei­nen, es bes­ser zu wis­sen.

Wenn wir über die­se immer wie­der auf­tre­ten­den Störungen und Probleme nach­den­ken, kann es hilf­reich sein, wenn wir Rollen iden­ti­fi­zie­ren. Überall wo Menschen zusam­men kom­men, gibt es ver­schie­de­ne Rollen, die wir oft über­neh­men, ohne es zu mer­ken. Im Folgenden wer­den wir uns mit den Rollen beschäf­ti­gen, die im Umfeld von OWS auf­tre­ten.

Individuen, die in GVs gehört wer­den wol­len, beset­zen oft die Rolle, die Aufmerksamkeit will: «Bitte nimm mich wahr! Ich habe etwas zu sagen!» Während vie­len Jahren hat unser soge­nannt demo­kra­ti­sches System in den USA die Stimmen die­ser Menschen igno­riert. Sie wur­den durch wirt­schaft­li­che und finan­zi­el­le Ungleichheiten eben­so aus­ge­schlos­sen wie durch ein poli­ti­sches System, das den Bürgern kaum mehr bie­tet, als eine Chance zu wäh­len. Aber jetzt fin­det die­se Rolle eine öffent­li­che Stimme.

Diese Rolle spricht zu einer ande­ren Rolle, die nicht zuhört. Viele Banker, Politikerinnen und die Medien sind Teil die­ser Rolle. Diese Rolle sagt: «Schweig! Ich höre dir nicht zu.» (Oder, wenn sie gelernt hat, sub­ti­ler vor­zu­ge­hen: «Ich wünsch­te, die Protestierenden hät­ten eine ein­heit­li­che Botschaft.»)

Und dann muss es noch eine drit­te Rolle geben: die zuhö­ren­de Rolle, die den Raum zur Verfügung stellt und das ent­ge­gen nimmt, was jemand anbie­tet.

Wenn Versammlungsleiterinnen und Organisatoren, Aktivistinnen und Aktivisten wis­sen, dass es die­se drei Rollen im Raum gibt, kann dies für sie von Nutzen sein. Wenn zum Beispiel jemand in einer GV viel spricht, könn­te der Gesprächsleiter wie­der­ho­len, was der/die Sprechende gesagt hat und es in der Essenz zusam­men­fas­sen, so dass die Sprechenden wis­sen, dass sie gehört wur­den und viel­leicht sogar bes­ser ver­ste­hen, was sie eigent­lich sagen woll­ten.

Ich habe erlebt, wie dies in vie­len ver­schie­de­nen Ländern funk­tio­niert hat. So konn­te ein bos­ni­scher Kroate wäh­rend eines Forums in Kroatien kurz nach dem Balkankrieg nicht auf­hö­ren zu spre­chen und hielt gera­de­zu einen Filibuster, obschon ihn sei­ne Kollegen anfleh­ten, auf­zu­hö­ren. Doch nach­dem ich ihm gegen­über wie­der­holt hat­te, was ich zu ver­ste­hen mein­te, dank­te er mir und setz­te sich. Wenn die Menschen sich gehört füh­len, hören sie auf, Redezeit zu bean­spru­chen, weil es für sie eine Erleichterung ist, wenn die Rolle des Zuhörenden besetzt wird.

Natürlich ist es oft eine Herausforderung, die­se Rolle aus­zu­fül­len. Jede® will reden, aber wer kann wirk­lich zuhö­ren? Im «Worldwork» sagen wir, dass die Ältesten (Elders) die­je­ni­gen sind, die allen Stimmen zuhö­ren, die dafür sor­gen, dass alle spre­chen kön­nen und gehört wer­den, und die in einem gege­be­nen Konflikt für alle das Beste wol­len. OWS braucht mehr Älteste, wie der Rest der Welt auch.

Wenn wir davon aus­ge­hen, dass ver­mut­lich jeder­mann gehört wer­den möch­te, kön­nen wir auch ver­su­chen, die Rolle des Zuhörers zu kul­ti­vie­ren. Dies könn­te zum Beispiel so aus­se­hen, dass Grossgruppen in Gruppen mit zwei oder drei Personen auf­ge­teilt wer­den, wel­che ein aktu­el­les Thema mit­ein­an­der dis­ku­tie­ren.

«Occupy Minneapolis» hat die­se Möglichkeit mit gros­sem Erfolg wäh­rend einem Prozess zur Konsens-Findung ein­ge­setzt, der zuvor regel­mäs­sig blockiert wur­de. Nach einem Austausch in Zweiergruppen konn­te die gan­ze Gruppe wei­ter­ar­bei­ten. Eine austra­li­sche Aktivistin hat eine ande­re Lösung gefun­den, indem sie die Mitglieder einer Gruppe bat: «Halte dei­ne Hand hoch, wenn dies dei­ne erste GV ist.» – «Halte dei­ne Hand hoch, wenn du am City Square gecampt hast.», und: «Halte dei­ne Hand hoch, wenn du bei der Räumung dabei warst.».

Beide Methoden haben den jeweils Versammelten die Erfahrung ver­mit­telt, dass ihnen jemand zuhör­te und dass sie ein wich­ti­ger Teil waren von dem, was pas­sier­te.

Eine ähn­li­che Rolle wie der Zuhörer hat die Rolle, die etwas schät­zen kann. Manchmal wer­den Leute in einer GV ange­grif­fen, wenn sie sich in einer Leitungsrolle ver­su­chen. Wie viel auf­re­gen­der könn­te es sein, wenn der Mut, eine neue Rolle aus­zu­pro­bie­ren, begrüsst und geschätzt wür­de!

Ein OWS-Camp hat dafür eine ande­re Lösung ent­wickelt und eine gros­se Tafel auf­ge­stellt, auf der anony­me oder unter­zeich­ne­te aner­ken­nen­de Bemerkungen über Menschen im Camp auf­ge­schrie­ben wer­den konn­ten. Das ist noch eine Art, zu zei­gen, dass Menschen gehört wer­den!

Die Rolle, die gese­hen wer­den will, ist ver­bun­den mit der Rolle der­je­ni­gen, die etwas bei­tra­gen möch­ten. Manchmal sind sogar erfah­re­ne Organisatoren unsi­cher und wis­sen nicht recht, wie sie etwas zu die­ser Bewegung bei­tra­gen könn­ten, die eine eige­ne Kultur hat, die ihnen viel­leicht weder stra­te­gisch noch nach­hal­tig vor­kommt. Sie füh­len sich mög­li­cher­wei­se macht­los, wenn sie sich an die GV-Kultur und die Regeln, wel­che von den OWS-Organisatoren auf­ge­stellt wur­den, anpas­sen müs­sen. Und Menschen, die zum vor­aus anneh­men, dass sich die lan­ge Geschichte der Unterdrückung ein­mal mehr wie­der­ho­len könn­te, wer­den wohl nicht das Gefühl haben, ihre Stimme und ihr Beitrag sei­en beson­ders will­kom­men.

Wenn wir an die beglei­ten­de Rolle den­ken, die­je­ni­ge, die einen Beitrag ent­ge­gen­nimmt, fin­den wir Möglichkeiten, mit die­ser Dynamik umzu­ge­hen. Die Verantwortlichen könn­ten zum Beispiel den Anwesenden vor­schla­gen, sich in klei­nen Gruppen dar­über aus­zu­tau­schen, was jede® ein­zel­ne per­sön­lich zu die­ser Bewegung bei­tra­gen könn­te. Die Mitglieder die­ser Kleingruppen könn­ten dann auch Möglichkeiten und Strategien dis­ku­tie­ren, ihre Beiträge in die gros­se Gruppe ein­zu­brin­gen.

Viele Menschen möch­ten etwas bei­tra­gen, aber sie wis­sen nicht wie. Es ist wich­tig, sie dabei zu unter­stüt­zen, ihre Stärken zu erken­nen und ihren Wunsch zu erfül­len, etwas bei­zu­tra­gen.
Auf die­se Weise ver­mei­den wir Gefühle von Entmutigung und Machtlosigkeit und die uner­wünsch­te Wirkung, dass Menschen nicht mehr kom­men oder ande­re davon abhal­ten, sich in der Bewegung zu enga­gie­ren. Gleichzeitig erhält eine Bewegung neu­es Leben, wenn von den «Graswurzeln» neue Ideen und Energien kom­men.

Als ich mit mei­nen Gesprächspartnern über die­se Ideen sprach, haben sie vie­les sofort aus­pro­biert.

Eine jun­ge Schwarze aus New York sprach über ihre Frustration dar­über, dass, wenn Schwarze in OWS auf­tauch­ten, ihre Beiträge oft gering geschätzt wur­den. Sie äus­ser­te das Gefühl, dass OWS genau das Gegenteil braucht – dass die­se Beiträge geschätzt und wich­tig genom­men wer­den soll­ten, so dass sich die Bewegung wei­ter aus­brei­ten und diver­si­fi­zie­ren kann.

Ein ande­rer Schwarzer, ein Organisator aus Philadelphia, frag­te nach, wie sie sich das genau vor­stel­le. Ihr ursprüng­li­ches Zögern ver­wan­del­te sich in Begeisterung, als er mit Wertschätzung und Interesse auf ihre Ideen ein­ging. Als er ihr dar­auf­hin ein Coaching anbot, nahm sie sein Angebot ger­ne an. Eine Woche spä­ter lei­te­te sie ein «People of Colour»-Treffen (POC) mit hun­dert Teilnehmenden und bot ein Medientraining für POC-Frauen an, wel­che sie dar­in unter­rich­te­te, ihre Stimme bes­ser zu fin­den, Interviews zu orga­ni­sie­ren und in den Medien zu spre­chen.

Dies war ein ein­drück­li­ches Beispiel dafür, dass es wohl eine Vielzahl von poten­zi­el­len Beiträgen gäbe, die sich zei­gen und ver­wirk­li­chen könn­ten, wenn wir die ein­zel­nen Rollen im Feld erken­nen und beset­zen wür­den, wenn sie gebraucht wer­den. Wir soll­ten nicht ver­ges­sen, dass jener Mann, der mehr über die Ideen sei­ner Kollegin hören woll­te, auch einen wich­ti­ge Beitrag lei­ste­te, denn die Rolle des­sen, der etwas auf­greift, ist in sich bereits ein Beitrag!
Dieser Mann war einer der erfah­re­nen Organisatoren, die zuvor kei­nen Weg gefun­den hat­ten, für die OWS nütz­lich zu sein. Er hat­te wie­der­holt ver­sucht, den OWS-Moderatoren Ratschläge zu geben, wie sie bes­se­re GVs und eine nach­hal­ti­ge­re Bewegung errei­chen könn­ten, ohne dass er viel erreich­te. Doch jetzt wur­de ihm klar, dass er (als einer der vie­len wohl­mei­nen­den Menschen, die zu Ratschlag-Gebern wer­den) stecken­ge­blie­ben war in der Rolle des­sen, der spricht. Er beschloss, etwas Neues zu ver­su­chen und war dies­mal in der Rolle des Ältesten, der zuerst zuhör­te und erst dann sein Coaching anbot und war­te­te, bevor er sei­ne eige­nen Ideen ein­brach­te.

Eine wei­te­re Betrachtungsmöglichkeit ergibt sich anhand der Kritik, die von den Mainstream-Medien gegen die OWS-Bewegung erho­ben wur­de: vie­le Köpfe und kei­ne ein­heit­li­che Botschaft. Anstatt zu über­le­gen, ob die­se Kritik rich­tig oder falsch sei, kön­nen wir ver­su­chen her­aus­zu­fin­den, ob irgend­et­was dar­an gut ist!

Wenn OWS eine Kreatur mit vie­len Köpfen ist, kann jedermann/jedefrau ein Kopf sein. Wenn so vie­le Köpfe wun­der­schö­ne Lieder sin­gen, ist es an uns allen, sowohl zuzu­hö­ren als auch unse­re eige­nen Lieder zu sin­gen. Die schön­sten und über­zeu­gend­sten davon wer­den gehört wer­den. (Diesen Artikel zu schrei­ben nach­dem ich die­sen enga­gier­ten Menschen mit vol­ler Kraft zuge­hört habe, ist mein eige­ner Versuch, ein Lied bei­zu­tra­gen.) Aus die­ser Perspektive sind wir alle poten­zi­el­le Anführerinnen und Anführer in die­ser Bewegung.

Nach Arnold Mindells (2) Idee der «tie­fen Demokratie» kann sich die Weisheit einer Gruppe oder einer Gemeinschaft dann zei­gen, wenn alle Stimmen und Rollen eine Chance haben, gehört zu wer­den und zu inter­agie­ren. Vielleicht braucht das viel­köp­fi­ge Wesen «Occupy Wall Street» gera­de unser beson­de­res Lied. Die Welt ver­sucht sich aus­zu­drücken. Sie benützt uns dazu. Indem wir an unse­re eige­ne Stimme, an unse­ren eige­nen ein­zig­ar­ti­gen Teil glau­ben und indem wir aktiv auf die­je­ni­gen hören, die um uns her­um sind, kön­nen wir der Weisheit und Kraft die­ser Bewegung hel­fen, sich zu ent­wickeln.

Fussnoten
(1) «Worldwork» wur­de ab 1989 vom US-Psychologen und Buchautor Dr. Arnold Mindell ent­wickelt. Der Ausdruck bezeich­net ein facet­ten­rei­ches Mediationsverfahren, wel­ches auf der Basis der «tie­fen Demokratie» mit Gruppen und Grossgruppen an deren Konflikten und Themen, an ihrer Geschichte und an ihren ver­schie­de­nen Zuständen arbei­tet.
(2) Dr. Arnold Mindell ist Begründer der «Prozessorientierten Psychologie/Prozessarbeit». 1982 grün­de­te er In Zürich mit Kollegen und Kolleginnen die Forschungsgesellschaft für Prozessorientierte Psychologie. Er lebt und arbei­tet in Portland, Oregon, wo sich auch das Process Work Institute befin­det. Informationen über das Zentrum Prozessarbeit Zürich gibt es über www.prozessarbeit.ch

Übersetzung: Ursula Hohler

Foto: zVg.
ensuite, Januar 2012

 

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