EDITORIAL Nr. 108

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Von Lukas Vogelsang – Seit 2002 beschäf­ti­ge ich mich nicht nur intel­lek­tu­ell mit dem Thema Kulturpublikationen, Kulturjournalismus, Kulturmagazine. Das Thema ist kom­ple­xer, als man es ver­mu­ten könn­te, und vie­le Dinge in der «Kultur» sind über­be­wer­tet, unter­be­wer­tet oder gänz­lich falsch ver­stan­den. Es ist unab­ding­bar, die Kultur für jede Altersgruppe, für jede sozia­le Schicht, für jede künst­le­ri­sche Richtung, für jeden regio­na­len Bezug neu zu stu­die­ren. Es gibt nun ein­fach mal die­se «Kultur» nicht, von der alle träu­men: Die Einheitskultur, in der alle gleich und alle Interessen eben­bür­tig sind. Es ist eine Illusion zu mei­nen, dass Kultur alle inter­es­siert – das haben uns die gros­sen Medienverlage und Universitäten schon lan­ge bewie­sen, und wer sich ernst­haft mit dem Begriff «Kultur» aus­ein­an­der­setzt, weiss das. Es ist ver­hee­rend, wie hart­näckig sich die Begriffe «Kultur» und «Kunst» inein­an­der ver­wo­ben haben, nur um Geldausgaben zu recht­fer­ti­gen. Hier ist eine Knacknuss.

Zum Beispiel redet im Zusammenhang mit «Kultur» kaum jemand von Integration ande­rer Kulturen – was in einer glo­ba­li­sier­ten Gesellschaft Fragen auf­wirft. Die öffent­li­chen Abteilungen für Kultur haben zwar oft­mals Ambitionen, in einem Nebensatz das Thema Migration zu erwäh­nen – aber es bleibt oft dabei. Solche Themen wer­den den Sozialabteilungen abge­ge­ben, was unsin­nig ist. Wann zum Beispiel haben sie, lie­be LeserInnen, eine Werbung gese­hen, wel­che AfrikanerInnen oder InderInnen, alle OsteuropäerInnen in die loka­len Kulturgeschehnisse oder ins Stadttheater ein­bin­den möch­te? Einzig die ProHelvetia und ein paar pri­va­te Stiftungen küm­mern sich schweiz­weit dar­um. Und auch da ste­hen die Künste im Vordergrund – nicht das Lebensumfeld von Menschen – oder aber es sind Sozialstiftungen, die Hilfsprojekte unter­stüt­zen. Interessanterweise funk­tio­niert es anders­rum bes­ser: Fremde Kulturen orga­ni­sie­ren sich hier oft und ver­su­chen uns einen Teil ihrer Lebensweisen und Denkweisen zu erklä­ren. Wir öff­nen uns ande­ren Kulturen, wenn es hoch kommt, bei der Aktion «Jeder Rappen zählt». Eine wenig rühm­li­che Antwort des Respekts an frem­de Kulturen.

Jugendkultur ist auch ein Thema, wel­ches von den Abteilungen für Kulturelles an die Jugendämter abge­ge­ben wird. Die zuneh­men­de Gewalt, die Unruhen gegen Polizei und die Alkoholexzesse im Nachtleben über­for­dern die Konzepter und Vordenker der Politik. Wir sind längst in der 24-Stunden-Gesellschaft ange­kom­men und es fehlt an jeg­li­chen Strukturen. Die Behörden und Politiker den­ken aber immer noch im Achtstunden-Takt. Die Unterhaltungswirtschaft hat unlängst die­ses Territorium über­nom­men und freut sich über die gesell­schaft­li­che Planlosigkeit dar­in. Hier kann man gutes Geld ver­die­nen.

Die Stadtplanung pflegt eben­so­we­nig den Dialog mit den Abteilungen für Kulturelles. Kultur zeigt sich auch im Raum, in der Raumplanung einer Stadt. Strassennamen, Strassenführungen, öffent­li­che Plätze – das hat sehr viel mit der Alltagskultur einer Gesellschaft zu tun. In der Stadt Bern sind mir bei­spiels­wei­se die plan­los ange­ord­ne­ten Strassen und Trottoirs auf­ge­fal­len. Da ist oft kein Stil, kei­ne ein­heit­li­che Form zuer­ken­nen. Die Diskussion um Geranien in den Altstadt-Räumen ist ein Fall für die Abteilungen für Kulturelles. Auch Kulturmagazine – ensuite mit­ein­ge­schlos­sen – stel­len zu oft nur die Künste ins Zentrum – und schlies­sen den eigent­li­chen Kulturgedanken aus. Es stimmt: Fast alles ist eine Frage der Kultur. Deswegen brau­chen wir Konzepte und Denker, wel­che die­se Dinge wie­der zu einer Form – oder zumin­dest auf einen Haufen brin­gen.

Die Gesellschaften welt­weit ste­hen an einem Wendepunkt. Während unse­re Finanzkonzepte fal­len, die poli­ti­schen Systeme umge­wor­fen wer­den, Diktaturen implo­die­ren, wäre der per­fek­te Zeitpunkt gekom­men, in die Runde zu schau­en und unser Kulturverständnis zu über­den­ken, die Begriffe neu zu sor­tie­ren. Just jetzt aber steht die Stadt Bern ohne gül­ti­ges Kulturkonzept da (das letz­te Papier läuft Ende 2011 aus). Genau jetzt wur­de in Zürich das Kulturleitbild poli­tisch durch­ge­wun­ken – ohne, dass man sich öffent­lich damit aus­ein­an­der­ge­setzt hät­te. Allgemein herr­schen in den mei­sten Städten kul­tu­rell rechts­freie Räume: Es gibt kaum brauch­ba­re Grundlagen und Konzepte, auf­grund derer die Politik ihre Entscheidungen fäl­len könn­te. Und die poli­ti­schen Parteien haben im Parteiprogramm unter «Kultur» ein Loch.

Wenn wir die Medien noch immer als 4. poli­ti­sche Macht sehen wol­len, ist es mehr denn je unser Medienauftrag, bei der Meinungsbildung im Kulturellen mit­zu­hel­fen. Kultur ist immer etwas Individuelles, das Individuum ist aber allei­ne fähig, die Welt zu bewe­gen. Trotzdem wird Kultur nur durch eine Gemeinschaft defi­niert. Dies steht auch auf der ensuite-Fahne: ensuite fei­ert im Jahr 2012 bereits den 10. Jahrgang und es wird Zeit, dass wir unse­re Funktion als Kulturmedium neu über­den­ken und die­ser kon­zept­lo­sen Zukunft Rechnung tra­gen. Wie immer begin­nen wir sofort, schon in die­ser Ausgabe. Ganz nach dem Motto: Es gibt kei­nen Grund im Leben, auf das Leben zu war­ten.

Und falls sie, lie­be LeserInnen (und damit sind vor allem die GratisleserInnen ange­spro­chen!), noch einen Rappen für ein hei­mi­sches Kulturmagazin übrig haben, so wür­den wir Sie ger­ne dar­an erin­nern, dass wir dar­auf ange­wie­sen sind – mehr denn je. Auf Seite 7 fin­den sie nähe­re Angaben.

Frohe Festtage!

 


Foto: zVg.

Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 108, Dezember 2011

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