«Une bon­ne Cuvée!»

Von

|

Drucken Drucken

Von Sandro Wiedmer – Nachlese zum Neuchatel International Fantastic Film Festival:  Mit einer neu­en Rekord-Anzahl von Besuchenden ist am 9. Juli das NIFFF 2011 zu Ende gegan­gen – auch sonst ein guter Jahrgang («une bon­ne cuvée»). Mit 27’000 Zuschauenden bei den Projektionen von über 140 Titeln in neun Tagen ist es den Veranstaltenden hoch anzu­rech­nen, dass kaum Momente zu ver­zeich­nen waren, da vor über­füll­ten Veranstaltungen ein Gedränge ent­stand und Leute draus­sen blei­ben muss­ten.

So war zum Beispiel der Abschlussfilm «Melancholia» des Dänen Lars Von Trier schon Tage zuvor aus­ver­kauft, was jedoch mit der Gewissheit, dass es sich um einen der weni­gen gezeig­ten Streifen han­delt, wel­cher sei­nen Weg in das Kinoprogramm fin­den wird, ver­kraft­bar ist. Ebenfalls für vol­le Säle sorg­te die Produktion «Troll Hunter» aus Norwegen von André Øvredal, wel­cher mit dem «Narcisse» als bester Film aus dem inter­na­tio­na­len Wettbewerb, dem Mélies für den besten euro­päi­schen Spielfilm und dem Publikumspreis gleich mit drei Preisen aus­ge­zeich­net wur­de. Im Stil eines Fake-Documentary gedreht, wie sie sich seit «The Blair Witch Project» wach­sen­der Beliebtheit erfreu­en, bringt der Film einen angeb­li­chen Zusammenschnitt des umfas­sen­den, von einem drei­köp­fi­gen Team von Filmstudenten gedreh­ten Materials auf die Leinwand, in dem sie einem myste­riö­sen, mut­mass­li­chen Jäger auf der Spur sind. Der Mann, in dem sie anfäng­lich einen Wilderer ver­mu­ten, ist jeg­li­cher Auskunft über sein Tun abge­neigt, bis er sich erwei­chen lässt, das Kamerateam mit auf eine sei­ner nächt­li­chen Exkursionen zu neh­men. Dort gibt er sich dann als von der Regierung ange­stell­ter Experte für das Wesen der Trolle zu erken­nen, einem Fabelwesen aus der tra­di­tio­nel­len Mythologie Norwegens. Er soll einer­seits dafür sor­gen, dass deren tat­säch­li­che Existenz vor der Bevölkerung geheim gehal­ten wird, ande­rer­seits ver­hin­dern, dass die turm­ho­hen, sich weder durch Intelligenz noch Sensibilität aus­zeich­nen­den Monster in bewohn­tes Gebiet ein­drin­gen. Zu dem Zweck wur­de gar ein Kreis von Hochspannungsleitungen ange­legt, eine Art Einzäunung ihres Territoriums, so dass es in der Umgebung immer mal wie­der zu Stromausfällen kommt.

Wie noch so man­cher Film aus dem Programm des Festivals ist «Troll Hunter» bereits für ein US-Remake auf­ge­gleist, was um so befremd­li­cher ist, als es sich bei den mit gerin­gem Budget glän­zend ani­mier­ten Unwesen um ein aus­schliess­lich nor­we­gi­sches Kulturgut han­delt. Das sel­be Schicksal erwar­tet den Gewinner des asia­ti­schen Wettbewerbs, «Hello Ghost» von Kim Young-tak aus Südkorea, eine eben­so ver­gnüg­li­che wie melan­cho­li­sche Komödie um einen geschei­ter­ten Selbstmörder, den nach sei­nem Erwachen im Spital vier Geister behel­li­gen, die den nicht rau­chen­den, scheu­en, Süssigkeiten mei­den­den und selbst­dis­zi­pli­nier­ten Einzelgänger aller­lei ihm zuwi­der­lau­fen­de Gewohnheiten anneh­men las­sen und in Situationen brin­gen, die ihn der Umwelt, wel­cher die Geister unsicht­bar sind, zuneh­mend zu ent­frem­den dro­hen. Was aus dem Stoff in den Händen von Chris Columbus (u.a. «Harry Potter», «Kevin Home Alone ») wer­den soll lässt das Schlimmste befürch­ten.

Aus Amerika kommt hin­ge­gen auch ein wei­te­rer Film, der mit der spe­zi­el­len Erwähnung der Jury des inter­na­tio­na­len Wettbewerbs bedach­te «Stake Land» von Jim Mickle, wel­cher kaum in hie­si­gen Kinos zu sehen sein wird. Eine Mischung aus Road Movie, Horror-Story und Überlebensdrama in einer post-apo­ka­lyp­ti­schen Welt, beschreibt die Geschichte die Flucht eines über­le­bens­tüch­ti­gen Einzelgängers und eines Jungen, wel­chen er nach der Auslöschung von des­sen Familie mit auf den Weg nach Norden nimmt, wo es noch siche­re Zonen geben soll in einer Welt, in wel­cher Vampire, Berserker und eine christ­lich-fun­da­men­ta­li­sti­sche ari­sche Bruderschaft die Bevölkerung ter­ro­ri­sie­ren. Der Streifen wird kaum zu den Exportgütern der Staaten gehö­ren und allen­falls als DVD auf den Markt kom­men. Dasselbe Schicksal blüht wohl einer wei­te­ren ame­ri­ka­ni­schen Produktion, «The Violent Kind» von den Butcher Brothers, in dem eine, wie der Titel sagt, der Gewalt nicht abge­neig­te Gang nach einer aus­gie­bi­gen Feier plötz­lich von einer bös­ar­ti­gen Gruppe selt­sam anti­quier­ter Rock’n’Roll-Rebellen bedrängt wird, einem recht kohä­ren­ten Stil- und Genre-Mix. Doch neben dem eben­falls im Wettbewerb gezeig­ten «Insidious» von James Wan, dem Regisseur u.a. des ersten Teils der «Saw»-Serie, wel­cher hier einen eher kon­ven­tio­nel­len Horrorfilm vor­legt, und eini­gen weni­gen in den Retrospektiven und Spezialprogrammen pro­gram­mier­ten Filmen bestand das Programm ein­mal mehr über­wie­gend aus nicht-ame­ri­ka­ni­schen Produktionen, dar­un­ter mit «Mirages» von Talal Selhami dem ersten Film aus Marokko und «Todos tus Muertos» von Carlos Moreno dem­je­ni­gen aus Kolumbien, die in den Wettbewerb auf­ge­nom­men wur­den.

Letzterer ist, der Thematik ent­spre­chend, eine raben­schwar­ze, böse Satire, denn es geht um die Menschen, die tag­täg­lich im süd­ame­ri­ka­ni­schen Land ver­schwin­den. Ein ein­fa­cher Bauer fin­det eines Sonntagmorgens einen buch­stäb­li­chen Leichenhaufen in sei­nem Maisfeld, was für die Behörden des Kaffs am Wahlsonntag höchst unge­le­gen kommt und die Polizisten bei der Siesta stört. Mit sehr öko­no­mi­scher Filmsprache ver­mit­telt der Film sei­ne Geschichte vor allem über die Bilder, und ver­birgt den Witz oft in den Details. – Zum ersten Mal als Filmland am N.I.F.F.F. ver­tre­ten war auch die Mongolei mit «Operation Tatar» von Bat-Ulzii Baatar, der eben­falls mit viel Bildwitz auf­war­tet, etwas der­ber und dicker auf­ge­tra­gen. Ein Angestellter einer Bank hat nicht nur Geldsorgen wegen sei­ner kran­ken Tochter, er wird oben­drein ent­las­sen. Sein Kumpel weiss alles über Banküberfälle, aus dem Buch eines Amerikaners und Anleitungen aus dem Internet, sie müs­sen nur noch einen Fahrer und einen Hacker fin­den. Die linea­re Erzählung wird mehr­mals unter­bro­chen durch bebil­der­te Vorstellungen aus der jewei­li­gen Perspektive der Beteiligten, wie sie sich den Ausgang ihres Unternehmens vor­stel­len. Natürlich kommt alles anders. – Zweifellos zu den gelun­ge­nen Komödien gehört auch «Norwegian Ninja» von Thomas Cappelen Malling, der die «wah­re» Geschichte erzählt, wie der 1984 als Spion und Landesverräter ver­haf­te­te Arne Treholt unter den Fittichen des frü­he­ren Königs Olav V nahe Oslo eine Ninja-Armee auf­baut, und mit deren Hilfe in Wirklichkeit das Land wäh­rend des kal­ten Krieges vor dem Einfluss der CIA und sei­nes rechts­na­tio­na­li­sti­schen Widersachers Otto Meyer bewahrt. Randvoll mit Absurditäten und bizar­ren Einfällen, arbei­tet der Film im Zeitalter von CGI vor allem mit Stop-Motion-Tricks, mit Anleihen von Heimatfilmen, bei Ed Wood und dem Geist der Monty Pythons.

Subtil geht die Schottin Lynn Ramsay in «We Need to Talk About Kevin» an ihre Thematik her­an: Durch ver­schie­de­ne Zeitebenen pen­delnd in frag­ment­ar­ti­gen Episoden wird die Entstehung einer Familie beschrie­ben, deren Umzug in ein grös­se­res Haus, der Tod der klei­nen Schwester, das Auseinanderbrechen der Familie, die pro­ble­ma­ti­sche Mutter-Sohn-Beziehung. Stets die Frage nach dem «Was?» und «Warum?» umkrei­send, ergibt sich am Ende, wenn das Puzzle voll­endet ist, im Rückblick die ein­drück­li­che, tief­grün­di­ge Analyse einer erschrecken­den Tat. Getragen durch her­vor­ra­gen­de Schauspiel-Leistungen, allen vor­an von Tilda Swinton als Mutter, einer der stärk­sten Filme des Festivals. – Thematisch ähn­lich gela­gert, sti­li­stisch eben­so form­voll­endet, ist der austra­li­sche Film «Wasted on The Young» von Ben C. Lucas, wel­cher mit ästhe­tisch hohem Anspruch die zeit­ge­nös­si­sche Version des zeit­lo­sen Phänomens von Intrigen und Mobbing an einer High School im

Zeitalter von Facebook und Twitter erzählt, ohne dass je eine erwach­se­ne Person auf der Leinwand zu sehen wäre. Vergleiche mit Finchers «The Social Network» kom­men hier nicht von unge­fähr.

Die jeweils aus Produktionen eines bestimm­ten Filmlandes aus­ge­wähl­ten Werke kamen die­ses Jahr «From Russia with Screams». Darunter mit dem 2020 ange­sie­del­ten «Target» von Alexander Zeldovich ein bit­ter­bös sati­ri­sches Gesellschaftsbild im Gewand eines Science Fiction-Streifens: Unter Moskaus begü­ter­ter Gesellschaft herrscht die Mode, in Gruppenreisen zu einem abge­le­ge­nen, aus­ge­dien­ten Astrophysiklabor die Unsterblichkeit zu erlan­gen. Nach einem Drehbuch von Kultautor Vladimir Sorokin gedreht birgt die Geschichte eini­ges an phi­lo­so­phi­schem und psy­cho­lo­gi­schem Tiefgang. – Eher dar­wi­ni­stisch geht es dage­gen in Aleksandr Melniks «Terra Nova» zu und her: Dem Problem von mit Schwerverbrechern über­füll­ten Gefängnissen zu begeg­nen wird auf Initiative der Vereinten Nationen ein Experiment mit von Psychiatern aus­ge­wähl­ten Häftlingen durch­ge­führt, wel­che auf einer unwirt­li­chen Insel «in die Freiheit» aus­ge­setzt wer­den. Die sich schon wäh­rend der Überfahrt auf dem Frachtschiff abzeich­nen­den Konflikte zwi­schen rus­si­schen Bevölkerungsgruppen wach­sen sich, auf der Insel gelan­det, zum Kampf alle gegen alle und ums Überleben aus. Kurz bevor sich eine Art Mitmenschlichkeit durch­setzt, lan­den die Gefangenen aus Amerika auf der Insel, und das Experiment wird auf Grund der neu­er­lich eska­lie­ren­den Gewalt auf dra­sti­sche Weise von der UNO abge­bro­chen.

Dass Sozialkritik durch­aus Eingang in Genre-Filme fin­den kann beweist auch der Thailänder Wisit Sasanatieng mit «Red Eagle», wel­cher eine Figur aus der Pop-Kultur des Landes auf­le­ben lässt: Der mas­kier­te Held bekämpft hier die kor­rup­te Regierung, wel­che gegen den Willen der Bevölkerung den von Amerika unter­stütz­ten Bau von Atomkraftwerken mit Hilfe von Mafia-Clans durch­set­zen will. – Oder, eben­so aus dem asia­ti­schen Wettbewerb, «The Unjust» von Ryoo Seung-wan aus Südkorea, in wel­chem sich bei den Ermittlungen gegen einen Serienmörder die ver­schie­de­nen Verstrickungen und Rivalitäten von Abteilungen der Polizei der­mas­sen in die Quere kom­men, dass dabei die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt. – Ein wei­te­rer star­ker Film aus Südkorea fand Eingang in die Serie der «Films of the Third Kind», den Genre-Filmen mit dem Potential, ein brei­te­res Publikum anzu­spre­chen, geschaf­fen, das nicht mehr statt­fin­den­de Open Air Kino zu erset­zen: «The Murderer – The Yellow Sea» von Na Hong-jin erzählt auf epi­sche Manier die Geschichte eines Taxifahrers aus der unter der japa­ni­schen Besatzung Koreas im zwei­ten Weltkrieg ent­stan­de­nen Provinz zwi­schen China, Nordkorea und Russland, wo über die Hälfte der Bevölkerung von ille­ga­len Geschäften lebt und bil­li­ge Arbeitskräfte für das kapi­ta­li­sti­sche Südkorea rekru­tiert wer­den. Für einen Auftragsmord in Seoul gedun­gen, mit dem Antrieb, sei­ne Frau wie­der­zu­fin­den, wel­cher er ein Visum bezahlt hat, um dort Arbeit zu fin­den und zur Zukunft des gemein­sa­men Kindes bei­zu­tra­gen, von wel­cher nun jedes Lebenszeichen fehlt, geht er auf den Deal ein, und gerät zwi­schen die Fronten von zwei Mafia-Clans und der Polizei.

In der Reihe der «Ultra Movies», den jen­sei­tig­sten, um Mitternacht pro­gram­mier­ten Filmen, wur­de mit «I Saw The Devil» von Kim Jee-woon ein wei­te­rer Film gezeigt, wel­cher belegt, dass die süd­ko­rea­ni­sche Filmkultur blüht. Die bis zu Extremen getrie­be­ne Rachestory lässt die Frage offen, wer hier der Teufel ist, der Täter oder der Rächer. Die Grenzen zwi­schen Gut und Böse wer­den der­art grund­le­gend auf­ge­weicht, dass sich unse­re Moralvorstellungen in Nichts auf­lö­sen. – Eher ver­gnüg­lich stand in die­sem Rahmen auch die kana­di­sche Produktion «Hobo with A Shotgun» von Jason Eisener auf dem Programm, wie «Machete» eine Ausweitung eines der Fake-Trailers des Grindhouse Double-Features von Tarantino und Roberto Rodriguez auf einen abend­fül­len­den Streifen, über den Feldzug des Landstreichers gegen das Verbrechen und die kor­rup­te Polizei im Städtchen Hope Town, ein uner­war­tet der­bes Comeback für Rutger Hauer in der Rolle des Hobo. – Über die Massen lustig war in der Reihe auch «Karate-Robo Zaborgar» des Japaners Noboru Iguchi zu sehen, eine völ­lig über­dreh­te Komödie um einen Geheimagenten mit einem Motorrad, wel­ches sich in Transformers-Manier flugs in einen Kampfroboter ver­wan­delt, wenn es die Situation ver­langt. Nach dem letz­tes Jahr gezeig­ten «Mutant Girls Squad» ein wei­te­rer Beweis, dass die Produktionen von Sushi Typhoon, mit dem Logo des explo­die­ren­den Sushi, der Beachtung loh­nen.

Soweit eine ver­kürz­te, sub­jek­ti­ve Übersicht über das dies­jäh­ri­ge Festival. Bleibt fest­zu­stel­len, dass der Ersatz des Open Air-Kinos durch die Spielstelle des Temple du Bas, eine Kirche im Herzen von Neuenburg, einen Volltreffer für den Anlass dar­stellt, und dass der Vorfreude auf näch­stes Jahr nichts im Wege steht.

Foto: zVg.
ensuite, August 2011

 

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo