Dass Bücher gele­sen wer­den

Von

|

Drucken Drucken

Von Peter J. Betts – Dass Bücher gele­sen wer­den, wird künf­tig ver­mut­lich zuneh­mend eben­so sel­ten wie völ­lig unnö­tig und, falls das mög­li­cher­wei­se ange­streb­te – wis­sen­schaft­li­che (?) – Ziel erreicht wer­den soll­te, auch unmög­lich. Ob sie dann noch geschrie­ben wer­den? Nach dem ersten der vier Artikel zu die­sem Thema in der NZZ vom 29. Dezember 2010 sol­len seit der Erfindung des Buchdruckes «rund 130 Millionen Bücher ver­öf­fent­licht wor­den sein. Davon hat Google in den ver­gan­ge­nen sechs Jahren etwa 15 Millionen Titel digi­ta­li­siert. Sie ste­hen, so weit sie urhe­ber­recht­lich nicht geschützt sind, Lesern (oder bes­ser: Nutzern) online zur Lektüre oder Volltextabfrage zur Verfügung…» (Roman Bucheli, auf der «Frontseite»). Eine klei­ne Kopfrechnung: Wenn bei einem durch­schnitt­li­chen Tempo für sorg­fäl­ti­ges, «haupt­be­ruf­li­ches» Lesen ein den­ken­der Mensch drei Tage braucht, um den «Zauberberg» wirk­lich ken­nen zu ler­nen, und er sich alle sechs Tage nach so gear­te­ter Schwerarbeit einen Ruhetag gönnt, und ihm bei mun­ter fort­schrei­ten­der Überalterung unse­rer Gesellschaft durch­schnitt­lich 100 Lesejahre blei­ben, kann er etwa 62’600 «Zauberberge» bewäl­ti­gen, bis ihm die Grabesruhe gegönnt wäre. Würden alle 15 Millionen der digi­ta­li­sier­ten Bücher einen ver­gleich­ba­ren Leseaufwand wie «Der Zauberberg» erfor­dern oder – schen­ken, brauch­te es für rund zwei­hun­dert­vier­zig Menschen je einen Hundertjahreseinsatz, um die Dinger zusam­men samt und son­ders gele­sen zu haben, wobei natür­lich nie­mand davon wüss­te, was die 239 ande­ren gele­sen hät­ten. Die 240 wür­den in den hun­dert Jahren zu voll­pro­fes­sio­nel­len Autisten her­an­wach­sen, denn nie­man­dem unter ihnen blie­be für den gering­sten Austausch Zeit oder Energie, und Übung macht Meister. Aber auch wenn die Texte durch­schnitt­lich nur einen Hundertstel der Zeit for­der­ten, wie hier vom «Zauberberg» ange­nom­men, brauch­te es noch immer fast drei neue Autisten, damit alle in 6 (!) Jahren digi­ta­li­sier­ten Werke in hun­dert Jahren ein­mal mit Verstand gele­sen wor­den wären. Und aus­ser ihnen (und ihrem geschä­dig­ten Umfeld sowie eini­gen Psychiatern) hät­te nie­mand etwas davon. Und in der Zwischenzeit wären längst alle 130 Millionen Werke in kaum mehr als 52 Jahren digi­ta­li­siert wor­den. Nun braucht es also defi­ni­tiv kei­ne neu­en Bücher: «Wer kann was Dummes, wer was Kluges den­ken, / Das nicht die Vorwelt schon gedacht», lässt Altvater Goethe Mephistopheles im zwei­ten Akt von «Faust II» sin­nie­ren, nach­dem uns der gros­se Dichter 1827 das Wort «Weltliteratur» geschenkt und dazu den wei­sen Rat mit­ge­ge­ben hat­te: «Jetzt, da sich eine Weltliteratur ein­lei­tet, hat, genau bese­hen, der Deutsche am mei­sten zu ver­lie­ren; er wird wohl tun, die­ser Warnung zu geden­ken.» Trotzdem, wer vom Zwang des Schreibens befal­len ist, wird wie eh und je wei­ter­schrei­ben, viel­leicht auch zusätz­lich von nicht weni­ger krank­haf­ter Begierde nach Weltruhm oder Unsterblichkeit ange­trie­ben, ob für den Papierkorb oder das Löschprogramm. Dass Leser zu Nutzern mutie­ren, wird die Schreibenden wenig küm­mern: an beruf(ung)sbegleitenden Kummer sind sie gewöhnt. In sei­nem drit­ten Artikel, im Feuilleton, Titel: «Schneller lesen», schreibt Herr Bucheli (er wird ver­mut­lich auch nach voll­ende­ter Transformation von Lesenden zu Nutzern wei­ter schrei­ben und, sehr selek­tiv, auch wei­ter lesen): «…Lesen und Kenntnisse aus erster Hand sind in einem sol­chen Prozess gera­de­zu hin­der­lich und wür­den ledig­lich den Suchvorgang stö­ren, dar­um lau­tet eine Regel der bei­den: ‚Erst suchen, dann lesen!’». Dies, nach­dem er die «hoff­nungs­fro­hen» Aussagen zwei­er Forscher von der Universität Münster zusam­men­ge­fasst hat, wonach die­se das «Zeitalter der Volltextsuche» her­auf­kom­men sehen wür­den; sobald ein­mal das gesam­te Textarchiv in digi­ta­ler Form zur Verfügung ste­he, könn­ten die lite­ra­ri­schen Bestände mit Anfragen durch­for­stet und die Fundstellen aus­ge­wer­tet wer­den. Ich möch­te Ihnen nicht vor­ent­hal­ten, wie Roman Bucheli sei­nen auf­schluss­rei­chen, etwas bös­ar­tig ana­ly­sie­ren­den, vor allem aber trau­ri­gen Artikel schliesst; im Wortlaut: «Suchbefehle füh­ren das unge­si­cher­te Abenteuer des Lesens vor­zugs­wei­se in aus­ge­tre­te­ne Pfade – und beraubt die Leser des Glücks zu fin­den, wonach sie nicht gesucht haben. Und dahin wäre Prousts augen­blickshaf­tes Rauschgefühl, aus kur­zem Traumschlaf auf­wa­chend, sich selbst in einem Buch wie­der­ge­fun­den zu haben.» Nein, es ist kein impo­ten­tes Geflenne von Ewiggestrigen. Aber auch kein Kotau vor dem Fortschritt unab­hän­gig von des­sen Sinn. Die vier Artikel zum Thema sind in der NZZ stra­te­gisch gut unter­ge­bracht: wer immer das Blatt nach ihrem oder sei­nem Gusto zu Hand nimmt, muss dem Thema begeg­nen und wird, falls des Lesens fähig oder wil­lig, in die drei übri­gen Artikel ein­tau­chen: «Frontseite», «Meinung & Debatte», «Feuilleton» (alle drei von Roman Bucheli) und «Forschung & Technik», von Stefan Betschon unter dem, ober­fläch­lich betrach­tet, harmlos–wertfreien, aber als geball­te Ladung ver­nich­ten­den Titel: «Quantitative Methoden für die Geisteswissenschaften» für das vier­fach behan­del­te Phänomen, das sehr wohl auf eine all­ge­mei­ne­re Entwicklungsrichtung der Gesellschaft hin­weist. Hier wird also scharf eine Politik der Kultur unter die Lupe genom­men. Oft habe ich mich etwa gefragt, war­um zum Beispiel Psychologie, viel­leicht auch Psychiatrie, sich immer mehr auf Statistik stüt­zen (wo hat es noch Platz für Beobachtung und Intuition?). Warum legen die Erziehungswissenschaften immer mehr Wert auf die mög­lichst welt­wei­te Vergleichbarkeit des Bewertens einer indi­vi­du­el­len Arbeit von kei­nes­wegs welt­be­we­gen­der Bedeutung? Warum legen Mentoren Studierender immer grös­se­ren Wert dar­auf, dass in den von ihnen in Gang gesetz­ten Arbeiten, bei­spiels­wei­se über päd­ago­gi­sche Entwicklungen, jede per­sön­li­che Erkenntnis der «Forschenden» in einen mög­lichst emo­ti­ons- und wert­frei­en, ent­per­sön­lich­ten, «objek­ti­ven», «neu­tra­len», «wis­sen­schaft­li­chen», aus­druck­lo­sen for­mel­haf­ten «Ausdruck» gepresst wer­den muss? Ist es nur das inzwi­schen fakul­täts­prä­gen­de Minderwertigkeitsgefühl der Geisteswissenschaften gegen­über den «wirk­li­chen» Wissenschaften, den Naturwissenschaften? Bedeutet es grösst­mög­li­che Annäherung von Akademia an die durch Zahlen gepräg­te, gehei­lig­te Wirtschafts- und Finanzwelt, also der eigent­li­chen Welt? Lassen wir die Fragerei! Es gibt glück­li­cher­wei­se auch Quellen aus­ser­halb des tota­li­tä­ren Textachivs. Vor mir liegt ein wun­der­ba­res Weihnachtsgeschenk: ein Abreisskalender von Ueli Zingg. 365 (dann beginnt es wie­der auf Null, mit höchst ver­schlüs­sel­tem Text: 2012 ist halt noch unbe­schrie­ben) Abreisszettel mit lusti­gen, absur­der­schei­nen­den, lie­bens­wür­dig­bös­ar­ti­gen, hei­te­ren, ver­spiel­ten, weh­ma­chen­den – immer viel­schich­ti­gen, tief­sin­ni­gen Textchen. Zum Beipiel: «Der viel­leicht ein­zi­ge Vorteil des Verlierers ist, nicht Sieger zu sein:» (9. Januar); «Sage ja und den­ke nein. Ansonsten tue nichts. WUMBABA»; «oGott / Wirst Du uns ver­las­sen? / Ausgerechnet am Kreuz? Amen VESPERGEBET (eine Woche nach Karfreitag). 366 Zettel und viel lee­rer Raum, um sich dar­in zu spie­geln. Was mich per­sön­lich sehr, sehr freut: Ueli Zigg scheint den weis­sen Neger WUMBABA auch zu lie­ben (nach­zu­le­sen mit zwei klei­nen Ver-Hörern in Claudius’ «Abendlied», in den bei­den Schlusszeilen der ersten Strophe). Man FINDET auch bei Ueli Zingg, wohl nicht nur im Abreisskalender, wonach man nicht gesucht hat.

Foto: zVg.
ensuite, Februar 2011

 

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo