Kunst erobert den öffent­li­chen Raum

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Von Fabienne Naegeli – «in fla­gran­te» – Fünf Interventionen von Collectif bar­ba­re: Waren Sie am 27. Mai auf dem Zentralplatz, mit­ten in der Stadt Biel, zwi­schen Altstadt und Bahnhof und haben Musik gehört? Nein, nicht auf Ihrem MP3-Player oder iPod mit einem Kopfhörer für sich pri­vat, son­dern ein rich­tig klas­si­sches Konzert, eini­ge von Schuberts bekann­te­sten Melodien, arran­giert für Klavier, Flöte, Tuba, Cello, Violine und opern­haf­ten Gesang. Falls ja, dann waren sie bei der «Schubertiade» dabei, der ersten Intervention von Collectif bar­ba­re. Eigentlich war die Schubertiade anfangs des 19. Jahrhunderts ein pri­va­ter Zirkel für Musik, Literatur und Zwischenmenschliches in dem von poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Umbrüchen gepräg­ten Österreich, um Widerstand zu lei­sten gegen die Einengung und dem von Zensur gepräg­ten kul­tu­rel­len Leben. Dieser Rückzug ins Private dreht das 2006 gegrün­de­te Collectif bar­ba­re nun um und tritt in die Öffentlichkeit, wie das heu­te im Internet stän­dig geschieht. Mit fünf Interventionen, die aus dem Pilotprojekt «Atteintes à la pudeur» (2008/09) her­vor­ge­gan­gen sind, inter­agie­ren die Künstlerinnen und Künstler auf viel­sei­ti­ge Weise mit dem öffent­li­chen Raum und den dar­in bereits exi­stie­ren­den Gegebenheiten. Sie stel­len die­sen Raum in Frage und nut­zen ihn als Ort der Begegnung. Die fünf Performances, wel­che in einer Grauzone zwi­schen Inszenierung und poten­ti­ell rea­len Situationen ange­sie­delt sind, beschäf­ti­gen sich mit der Beziehung zwi­schen Passanten in ihrer all­täg­li­chen, öffent­li­chen Lebenswelt und Kunst. Sie fra­gen nach dem Platz der Kunst in unse­rer heu­ti­gen Gesellschaft und mischen sich in die Gewohnheiten der Personen ein, die am kul­tu­rel­len Leben nicht stän­dig teil­neh­men. Sie spie­len mit der Dynamik des Ortes und den dar­in übli­chen Regeln, Ritualen oder Verhaltenscodes, der Wahrnehmung der Zuschauenden und dem Faktor des Unvorhergesehenen.

Falls Sie die erste Performance nicht besucht haben, «Sonate» heisst die zwei­te für Irritation sor­gen­de Aktion von Collectif bar­ba­re, die von Dieter Schnebels «Körpersprache» und «Poem für drei Finger» inspi­riert wur­de. Eine stren­ge Komposition von Bewegungen nach dem Prinzip einer Sonate (erste Partie lang­sam, dann schnell und schliess­lich noch­mals lang­sam, mit cre­scen­do-decre­scen­do und Motivvariationen) schafft einen sur­rea­li­sti­schen Kontrast zwi­schen den nor­ma­ler­wei­se von Passanten erwar­te­ten Verhaltensweisen und den kom­plett durch­cho­reo­gra­fier­ten Bewegungsabläufen der 15 Performenden.

Die fünf Interventionen «in fla­gran­te» reis­sen schein­bar Bekanntes und des­sen ursprüng­li­che Bedeutung aus dem Kontext. In «Setting», der drit­ten Performance, gestal­ten die Barbaren eine leben­di­ge Installation à la Hollywood. Inspiriert durch die sehr inti­men Portraits von Schauspielern hin­ter der Kamera, wel­che die Fotografien Mary Ellen Mark (1940*) an unzäh­li­gen Filmsets auf­ge­nom­men hat, setzt sich das Collectif exzes­siv geschminkt und bereits in Filmkostümen für den Dreh mit dem Unterschied zwi­schen dem Verhalten des Einzelnen im Privaten und in der Öffentlichkeit aus­ein­an­der.

Falls Sie beim Einkaufen ger­ne etwas ande­res als die berie­seln­de, kon­sum­ani­mie­ren­de Warenhausmusik aus dem Lautsprecher hören möch­ten, dann soll­ten Sie zur «Persona grata»-Intervention im Coop Center beim Bahnhof. Kinder der Musikschule Biel, Solothurn und Lyss spie­len ein­zeln und in Gruppen Stücke aus ihrem Repertoire zwi­schen den Konservendosen und Gemüseregalen, der Fleischabteilung und dem Süssigkeiten-Gestellen. Das Kind als Nicht-Konsument an einem Ort, wo es durch Marketing zum kon­sum­ori­en­tier­ten Wesen gemacht und als zukünf­ti­ger Kunde umwor­ben wird. Welchen Platz nimmt es ein? Wie inte­grie­ren die Marktstrategen sei­ne Bedürfnisse und Konsumgewohnheiten? – hin­ter­fragt «Persona gra­ta».

Nach «Atteintes à la pudeur» ist «in fla­gran­te» nun der zwei­te Teil einer Projekt-Trilogie. 2011 kommt «SITCOM», die Inszenesetzung des gesam­ten Bieler Zentralplatzes in einer Abfolge von klei­ne­ren Episoden. Das Abschlussprojekt von Collectif bar­ba­re wird durch die fünf­te Intervention mit gleich­na­mi­gem Titel vor­be­rei­tet. Mit künst­lich ein­ge­bau­ten Lachern aus dem Off, Werbung, Jingles und humo­ri­sti­schem «Familiendrama»- oder «Intrigen-und Freunden»-Inhalt ori­en­tiert sich die­se Inszenierung am titel­ge­ben­den Format der Sitcom. Das ist aber nur die eine Seite der Aktion. Auf der andern agie­ren Schauspielerinnen und Schauspieler mit­ten unter den Zivilisten und die Zuschauenden sit­zen wie im Theater in Reihen und schau­en alle in die­sel­be Richtung, was für zufäl­li­ge Passanten eine irri­tie­rend gro­tes­ke Szenerie abge­ben und in den som­mer­li­chen Nächten für eini­ge Überraschungen sor­gen wird.

www.collectif-barbare.ch

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2010

 

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