Auch wenn es nicht

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Von Peter J. Betts – «Auch wenn es nicht so klingt, ist es ein Barockorchester, das Mozarts Ouvertüre zur ‹Zauberflöte› spielt», sag­te der Moderator in der Mattinata und fuhr fort: «So ändert sich der Geschmack im Laufe der Zeit.» Ich neh­me an, er woll­te kaum andeu­ten, dass es lei­der nicht so klin­ge, mit der bedau­ern­den (?) Erklärung, es hand­le sich halt um ein Barockorchester. Vermutlich woll­te er uns die Einsicht ver­mit­teln, dass ein Orchester, das sich auf Barockmusik ein­ge­schos­sen hat­te, in einer spä­te­ren Phase durch­aus in beein­drucken­der Weise auf den Geschmack authen­tisch klin­gen­der, klas­si­scher Musik kom­men kön­ne, was eine ihrer neue­ren Aufnahmen bezeu­ge. C’est le ton qui fait la musi­que? Die Betonung sinn­ent­schei­dend? Liest man die bei­den Sätze, mit denen ich spie­le, ohne Kursivschrift, unter­schei­den sie sich nur inso­fern, als der erste in direk­ter Rede da steht, der zwei­te in indi­rek­ter; aus­sa­ge­mäs­sig schei­nen sie iden­tisch. Erst die unter­schied­li­che Betonung zwei­er Einsilber beim Sprechen macht bei­spiels­wei­se aus Anerkennung Verachtung, aus posi­tiv nega­tiv. «Denn was man schwarz auf weiss besitzt, / Kann man getrost nach Hause tra­gen», meint der Schüler im «Faust» – offen­bar zu recht müss­te man, wie Goethe in jener Szene anregt, auch die­se Gewissheit cum gra­no salis neh­men. Und der Moderator hakt bei dem von ihm ver­folg­ten Thema nach, indem er «sich» fragt, was wohl Mozart – falls er alt genug gewor­den wäre – beim Zuhören emp­fun­den hät­te, als ein viel jün­ge­rer Kollege sein «Reich’ mir die Hand, mein Leben!» für Klarinette umge­schrie­ben hat­te. Neben dem Vermitteln bewe­gen­der Musik ging es offen­bar um das Reflektieren der beacht­li­chen Möglichkeiten und Resultate von Wertewandel. Das aus­ge­rech­net an jenem Morgen, in des­sen Verlauf die Entscheidungsträger in der UBS-Aktionärsversammlung dar­über ent­schei­den soll­ten, ob die ehe­ma­li­ge Oberste Heeresleitung der UBS den Persilschein erhal­ten und mit blü­ten­rei­nen, gestärk­ten Hemdsbrüsten in die irdi­schen Gefilde ewi­ger Glückseligkeit ent­schwe­ben dür­fe. Einen Klangakzent mit sym­bo­li­schem Wert hat­te die par­la­men­ta­ri­sche Kommission recht­zei­tig für die Frühnachrichten gesetzt. Potentieller Wertewandel? Ob auch hier der Ton ent­schei­den wür­de, frag­te ich mich, als ich hör­te, dass Altbundesrat Villiger von der Politik ein­ge­holt wor­den sei. Wertewandel? Gretchens Klage fällt mir ein: «Nach Golde drängt, / Am Golde hängt / Doch alles!» Ach, wir Armen. Wenigstens seit der Dichterfürst die­se ergrei­fen­den Zeilen geschrie­ben hat­te, hat sich dies­be­züg­lich wenig geän­dert. Aber viel­leicht wäre das Verweigern der Décharge für die Ospels die­ser Welt für die AktionärInnen ein­träg­li­cher und wür­de trotz allem erfol­gen: eben kein Wertewandel, nur eine Frage der Betonung? Nur? Mein Blick fällt auf die Titelseite des «Kleinen Bund» vom 13. April 2010. Ein abstos­sen­des Bild, vier­spal­tig, grell, laut. Gesellschaftskritik mit Highlighter her­vor­ge­ho­ben? Natalja Kliutscharjowa, in Sibirien gebo­ren, deren erster Gedichtband und der Roman «Endstation Russland» 2006 bei Suhrkamp auf Deutsch erschie­nen sind, hat den Artikel: «Alles haben, ohne irgend­et­was zu tun» als gekürz­ten Vorabdruck eines Vortrages, den sie an der Leipziger Buchmesse gehal­ten hat und der voll­stän­dig in «Sprache im tech­ni­schen Zeitalter» erschei­nen wird, dem «Bund» über­las­sen. «Verblendet von Gier», «Reichtum ohne Barmherzigkeit», «Jede Einmischung bleibt nutz­los» sind die drei Untertitel. Klingt nach Ospeliaden. Und «Auseinandersetzungen» bei Generalversammlungen der AktionärInnen. Die Autorin behaup­tet, alle wich­ti­gen und wir­kungs­vol­len Ideen in Russland sei­en von seit je von aus­sen über­nom­men wor­den, hät­ten sich dann aller­dings, kaum ange­kom­men, von abstrak­ten Ideen oder Philosophien in von allen kon­se­quen­te­stens prak­ti­zier­te Handlungsanweisungen gewan­delt: «Die letz­te Idee, die wir nach dem Zusammenbruch der Sow-jet­uni­on vom Westen über­nom­men haben, ist die Konsum-‹Philosophie›, die den mate­ri­el­len Wohlstand zu einem unum­stöss­li­chen Wert des Seins erklärt.» Die Autorin glaubt, hier, «im Westen», sei die Quelle der Konsumgesellschaft aus der pro­te­stan­ti­schen Ethik der Arbeit her­vor­ge­gan­gen (wie lieb! wie freund­lich! wie naiv! den­ke ich), «wo Verdienst und Arbeit in unmit­tel­ba­rem Bezug zuein­an­der ste­hen. In Russland dage­gen traf die Ideologie des mate­ri­el­len Wohlstandes auf die in der Sowjetgesellschaft ent­stan­de­ne Abneigung gegen jeg­li­che Arbeit, ja, deren Verachtung». In Russland? Denke ich. Und ich den­ke an wider­li­che Kontaktanzeigen in durch­aus bra­ven Zeitungen, an die «Qualitäten» die man sich zuschreibt und von künf­ti­gen Partnerinnen und Partnern ver­langt. Frau Kliutscharjowas Beispiele mögen für hie­si­ge Verhältnisse viel­leicht (noch) etwas über­trie­ben erschei­nen: «Die Helden des Massenbewusstseins sind Oligarchen und Diebe, die sich nur durch das Ausmass ihres Diebstahls von­ein­an­der unter­schei­den.» Herr Ospel ein Oligarch? «Die Regenbogenpresse wett­ei­fert in der Beschreibung der Häuser von Popstars mit gol­de­nen Klos und spe­zi­el­len Autolifts, eigens dafür gedacht, dass man mit den Autos bis ans Bett her­an­fah­ren kann.» Ich grei­fe zum Wirtschaftsteil der «NZZ» vom 3. April, Seite 29. Otfried Höffe – Professor für Philosophie, Uni Thübingen und Gastprofessur, Uni St. Gallen – schreibt unter dem Haupttitel: «Was ist ein ‹ver­ant­wort­li­cher› Wirtschaftsführer?» zur Absichtserklärung «Wider die Verkürzung des Konzepts ‹Profit› auf sei­nen peku­niä­ren Aspekt» (Untertitel). Professor Höffe schreibt: «Philosophen sind aber weder Moralisten noch Prediger. Ihr Metier ist nicht Schelte; es besteht in Begriff und Argument.» Er schilt nicht. Er pre­digt nicht. Er ver­sucht, dem nach­zu­ge­hen, was «Führen» sein, bedeu­ten und bewir­ken könn­te. Er spricht über sinn­vol­le, gesell­schafts­not­wen­di­ge Aufgaben der Wirtschaftsführer. «Aus Selbstinteresse des gesell­schaft­li­chen Teilsystems, der Wirtschaft, gehö­ren an die Spitze bedeu­ten­der Unternehmen Personen, die inte­ger, daher glaub­wür­dig sind. Integer sind sie nur, wenn sie ihr öko­no­mi­sches Führungsdenken von ihrem Selbstverständnis als ehr­ba­re Kaufleute und als recht­schaf­fe­ne Bürger nicht abkop­peln.» Er spricht auch über unan­stän­dig hohe Löhne: «Der Ausdruck ‹Profit› bedeu­tet weit mehr als nur das Geld. Er bezeich­net jed­we­den Nutzen, Gewinn oder Vorteil. In der Tat ist der peku­niä­re Profit nur eine der vie­len Währungen, in denen die Menschen das mes­sen, wor­auf es ihnen letzt­lich ankommt.» Zur Finanzkrise, in die wir uns hin­ein­ge­wirt­schaf­tet haben: «Für die Finanzkrise wer­den unse­re Kinder, ja sogar die Kindeskinder zah­len müs­sen. Schon jetzt sind die finan­zi­el­len Mittel für deren Zukunft gefähr­det: Mittel für Bildung und Ausbildung, für Wissenschaft und Forschung. Und beson­ders stief­müt­ter­lich behan­delt man die Kultur. Während man für den Strassenbau…» Ein klei­ner Mangel sei ver­merkt: Herr Professor Höffe ver­wech­selt Donald Duck mit Dagobert Duck, und die «NZZ» hat das nicht bemerkt: Pfui! Die rich­ti­ge Betonung fin­den? Wertewandel nicht nur eine Frage wech­seln­der Geschmacksdominanzen? Wer fin­det die wirk­sa­me Betonung? «Kaum jemand in Russland fühlt sich ver­ant­wort­lich für das, was im Land vor­geht», schreibt Frau Kliutscharjowa. Mir scheint, Bern oder Zürich sind nicht weit weg von Russland: «Etwas zu tun, was man liebt, Nutzen zu brin­gen, sein Talent zu rea­li­sie­ren, Freude und Befriedigung bei der Arbeit zu emp­fin­den – das alles sind für die mei­sten mei­ner Landsleute alt­mo­di­sche Anachronismen.»

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2010

 

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