Literarische Fragmente 6: Seit jeher unter­wegs

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Von Konrad Pauli – Er hat nichts zu lachen. Grimmig-ent­schlos­sen zieht er sein Wägelchen über den Platz vor der Gedächtniskirche, hält vor den ersten Tischen des Terrassencafés, klappt den Deckel auf und packt aller­hand Requisiten aus: einen zer­knit­ter­ten schwar­zen Schlapphut mit auf­ge­näh­tem Totenkopf, ein paar wab­be­li­ge, schweins­far­be­ne Plastikohren, einen Kunststoffblumentopf, des­sen wel­ke und ver­staub­te Blütenpracht, kaum hin­ge­stellt, sich auf Knopfdruck wun­der­sam belebt und zu ent­fal­ten beginnt und in ein pro­gram­mier­tes Kopfnicken ein­pen­delt, das zunächst, bis der Mann alles und sich selbst bereit gemacht hat, die Aufmerksamkeit der rasch sich zum Halbkreis ver­dich­ten­den Zuschauer auf sich zieht. Auf einem viel­be­fin­ger­ten, von man­chen Wettern gegerb­ten Karton kle­ben Fotos, Grimassenbilder, die mit eini­ger Müdigkeit den­noch instän­dig behaup­ten, der Mann sei ein Weltmeister.

Aus dem Wägelchen klingt auf ein­mal Musik, Melodien aus dem Berlin der 20er-Jahre, ein biss­chen hei­ser und bezau­bernd. Und wie der Mann nun sein Gesicht, das so beson­ders wie gewöhn­lich ist wie tau­send ande­re, in Aktion tre­ten lässt, die Augen rollt, die Backen auf­bläst und mit den Kiefern mahlt, das Kinn spitzt und die Unterlippe an die Nasenspitze rollt, mit raschem Handgriff die Hautlappen der Wangen nach links und rechts ver­spannt, dass Augen, Nase und Mund ein teig­för­mi­ges Einerlei bil­den, wie der Mann mit bis ins Detail ein­ge­üb­ten, pro­fes­sio­nel­len Griffen und Gesten sein Gesicht ent­stellt und aus ihm eine Unzahl best­ka­ri­kier­ter Physiognomien her­vor­zau­bert und, mal mit auf­ge­setz­ten Ohren und wech­seln­den Brillen, die Leute zum Lachen bringt und die Kinder mit offe­nem Mund stau­nend daste­hen lässt, das ist atem­rau­bend.

Ohne mit einer Wimper zu zucken, zieht er plötz­lich den Hut ab, die bei­den Ohrmuscheln, packt den nicken­den Blumenstrauss ein und die Kasperlefigur, geht kurz, als hät­te er’s bei­na­he ver­ges­sen, mit einem Körbchen das Geld ein­sam­meln, klappt den Deckel des Wägelchens zu und zieht wei­ter, hun­dert Meter, um von neu­em sei­ne rou­ti­nier­ten, wun­der­bar grau­en­haf­ten Grimassen aus­zu­packen. Es ist, als sage jede die­ser kau­zig-beklem­men­den Gesten: Da habt ihr eure Grimassen, gebt mir eine Mark, wenn’s sein muss auch weni­ger – und lasst mich end­lich in Ruhe. Zu lachen hat er nichts.

Foto: zVg.
ensuite, Mai 2010

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