Jules et Jim oder die Kunst des Liebens

Von

|

Drucken Drucken

Von Alexandra Zysset - Ich weiss nicht mehr, wann ich das erste Mal über den Begriff «Polyamorie» gestol­pert bin, aber er war dank sei­ner grie­chisch-latei­ni­schen Wurzeln leicht zu dechif­frie­ren: poly = vie­le, und amor, ja, das war klar. Trotzdem klang er für mich furcht­bar neu­mo­disch. Ein hüb­sches Etikett, wie auch der Veganismus, mit dem sich bär­ti­ge Fahrradfahrer und Grüntee schlür­fen­de Kunststudentinnen schmücken. Es liess mich an Berlin Kreuzberg den­ken und nicht an die Kommune I, an Hipster und nicht an Hippies.

Wikipedia gab mir recht. Die Polyamorie ist ein Kunstwort, das in den frü­hen Neunzigern erfun­den und ver­brei­tet wur­de. Von der uto­pisch-roman­tisch und für unse­re Ohren etwas stau­big klin­gen­den frei­en Liebe grenzt sich der Begriff klar ab. Wo frü­her noch der Sponti-Spruch «Wer zwei­mal mit der­sel­ben pennt, gehört schon zum Establishment» galt, mes­sen heu­te poly­amor leben­de Menschen die Freiheit ihrer Liebe nicht mehr an der Anzahl Sexualpartner. Auch eine offe­ne Beziehung will der/die Polyamore nicht füh­ren. In die­sem Modell ver­fügt näm­lich noch immer die Zweierbeziehung über das emo­tio­na­le Monopol. Will heis­sen, Seitensprünge und sexu­el­le Abenteuer sind erlaubt, Liebe aber holt man sich aus­schliess­lich beim Partner. Dabei ist es durch­aus mög­lich, oder viel­mehr natür­lich, meh­re­re Menschen zu lie­ben. Und wer könn­te uns die­se Lektion bes­ser ertei­len als Jules, Jim und die im Titel von François Truffauts Film uner­wähnt geblie­be­ne Catherine?

Es ist die Geschichte von zwei Freunden, dem Österreicher Jules (Oskar Werner) und dem Franzosen Jim (Henri Serre), die auf die eben­so freie wie flat­ter­haf­te Catherine (Jeanne Moreau) tref­fen. Zwar ver­lie­ben sich bei­de in sie, doch es ist Jules, der sie hei­ra­tet und mit ihr eine Familie grün­det. Erst als sich die drei nach dem ersten Weltkrieg wie­der­se­hen und die Ehe am Ende ist, beginnt die eigent­li­che Ménage-à-trois. Catherine trennt sich von Jules und hei­ra­tet Jim, ver­lässt aber weder das Haus im Schwarzwald noch Töchterchen Sabine. Sie bleibt. Jules bleibt. Jim zieht ein. Dass die Dörfler das Gespann als ver­rückt ver­spot­ten, stört die­se nicht. Im Gegenteil; ihr Leben zu dritt ist glück­lich. Zumindest für eine Zeit.

Jeanne Moreaus dunk­le Augen, ihr ver­ächt­lich stol­zer Mund. Es ist kein Wunder, dass die Künstlerfreunde die­sem Gesicht, das sie an das einer archai­schen Statue erin­nert, ver­fal­len. Ausserdem umgibt Catherine eine Aura des Charmes. Exzentrisch ist sie und selbst­be­stimmt, vor allem für eine Frau in der Belle Epoque. Sie lässt sich von kei­nem etwas sagen. Weder die Gesellschaft noch die Männer bestim­men über ihr Leben. Gleichzeitig muss sie stets um Aufmerksamkeit buh­len, ohne sich selbst jemals genug zu sein. Sie pen­delt von einem Liebhaber zum näch­sten und hin und wie­der zurück zu Jules, der ihr in Hörigkeit erge­ben ist. Er emp­fin­det, anders als Jim, kei­ne Eifersucht. Obwohl ihm die Dreierbeziehung zur Last wird, macht es ihn glück­lich, die bei­den um sich zu wis­sen. Es ist die­se Tragik aller Beteiligten, dass sie weder mit‑, noch ohne ein­an­der aus­kom­men kön­nen.

Die Psychologie der Figuren ist – wie bei real den­ken­den und füh­len­den Menschen – kom­plex. Dass der Film ihre Ambivalenz nicht nur sicht­bar, son­dern auch empha­tisch nach­voll­zieh­bar macht, ist sei­nen gran­dio­sen Schauspielern und dem Drehbuch zu ver­dan­ken. Es basiert auf dem gleich­na­mi­gen semi-auto­bio­gra­fi­schen Roman, mit dem der damals 74-jäh­ri­ge Henri-Pierre Roché anfangs der 1950er debü­tier­te. François Truffaut ent­deck­te ihn ein paar Jahre spä­ter, als er eine Kiste mit gebrauch­ten Büchern durch­stö­ber­te. Er ver­lieb­te sich auf der Stelle in den musi­ka­lisch klin­gen­den Titel und kauf­te das Buch. 1962 ver­film­te er es.

Mag sein, dass die Umstände, denen wir einen der laut dem «Time»-Magazin hun­dert besten Filme aller Zeiten zu ver­dan­ken haben, dem Zufall unter­la­gen. Doch der Erfolg von «Jules et Jim» grün­det auch auf dem Geist sei­nes Jahrzehnts. Es ist die Dekade einer Jugend, die den Krieg nicht erlebt hat und sich aus dem bür­ger­li­chen Korsett ihrer Eltern befrei­en will. Intellektuelle war­nen vor einem neu­en, von der fun­keln­den Welt des Konsums bedeck­ten Krieg, und Studenten gehen für sozia­le Gleichberechtigung, die Rechte der Frau und eine freie­re Bildungspolitik auf die Strasse. Konservative Lebensentwürfe, die auf kern­lo­sen Normwerten beru­hen, leh­nen sie ab. Und dazu gehört für vie­le auch die Ehe. Das Problem, das die Generation 68 mit ihr hat­te, war noch nicht, dass sie mit einer fünf­zig­pro­zen­ti­gen Wahrscheinlichkeit schei­tert. Vielmehr emp­fan­den sie den Anspruch, eine Person mit­tels recht­li­chem Vertrag an sich zu bin­den, als Symptom besitz­ori­en­tier­ten Denkens. Mein Haus, mein Partner, mein Fernsehgerät. Für die wah­re Liebe schien in der kapi­ta­li­sti­schen Gesellschaft kein Platz mehr zu sein.

Ähnlicher Ansicht war Sozialpsychologe und Bestseller-Philosoph Erich Fromm, des­sen 1956 erschie­ne­nes Werk «Die Kunst des Liebens» in den Sechzigern eif­rig gele­sen wur­de. Er dia­gno­sti­ziert dem moder­nen Menschen eine Unfähigkeit, die exi­sten­zi­el­le Einsamkeit mit­hil­fe der Liebe zu über­win­den. Frauen und Männer von heu­te sei­en nur auf den best­mög­li­chen Tauschhandel aus; mög­lichst viel Geliebtwerden gegen mög­lichst wenig Liebe. Wer nicht gut abschnei­det, kann sich immer noch mit sexu­el­ler Befriedigung betäu­ben – wie die Zuchtmenschen in Aldous Huxleys Dystopie «Brave New World» – oder mit ande­rem Spass von der Stange, wie ihn die Konsumgesellschaft en mas­se bereit­hält. Allerdings zieht Fromm die Aufhebung der Monogamie nicht in Betracht. Er ver­langt dem Menschen in einer Welt vol­ler Möglichkeiten eine Entscheidung für einen ande­ren Menschen ab. Ebenso ist die Liebe laut ihm eine Entscheidung, da sie eine akti­ve Tätigkeit ist, die es zu erler­nen gilt. Die Beziehung ist Arbeit an sich selbst. Und die­ser Prozess beinhal­te Selbstdisziplin, Geduld und Konzentration.

Das klingt alles sehr nach Paartherapie. Man kann Fromms Ideal aber auch im Sinne eines Bedürfnisses des Menschen nach Religion und Geboten deu­ten. Die Beziehung, die er beschreibt, ist ein Spiel nach bestimm­ten Regeln. das wir gewin­nen kön­nen, wenn wir uns an sie hal­ten und uns inner­halb des Rahmens nur genug anstren­gen. Wir wäh­len das Spiel zwar selbst, jedoch ver­hält es sich mit den Regeln kaum anders als mit Neujahrsvorsätzen. Ist es die Verlockung des Verbotenen? Ein bio­lo­gi­sches Bedürfnis, sei­ne Gene mög­lichst weit zu ver­brei­ten? Oder ein­fach der Lauf der Dinge? Fakt ist: Paare betrü­gen sich. Sie lügen und schä­men sich, ver­let­zen und füh­len sich schul­dig dabei. Daraus resul­tiert Doppelmoral.

Das Wunderbare an Jules, Jim und Catherine ist, dass sie ihr Begehren nicht unter­drücken. Sie stel­len kei­ne Regeln auf aus­ser der einen: Ehrlichkeit. Natürlich macht sie das nicht immun gegen Eifersucht und Verlustängste. Doch wären die Gefühle nicht eben­so bestim­mend, wenn sie unaus­ge­spro­chen blie­ben? Die Figuren in «Jules et Jim» las­sen die ste­ti­gen Veränderungen in ihrer Beziehung zu und ver­su­chen mit ihnen klar­zu­kom­men. Sie weh­ren sich nicht gegen den Strom des Lebens, son­dern ver­su­chen in ihm zu schwim­men, ohne unter­zu­ge­hen.

Sind Jules und Jim (und Catherine) des­we­gen «poly­amor»? Ich glau­be nicht. Aus dem Wunsch, die Liebe neu zu erfin­den, ist eine Bewegung gewach­sen mit eige­nen Flaggen, Schleifen und Symbolen. In Internetforen und Vereinen sam­melt sich die Szene und ver­sucht Konzepte für ein gelin­gen­des Zusammenleben zu defi­nie­ren. Die Polyamoren ver­trei­ben Zeitschriften und Manifeste, machen sich in der Politik für ihre Rechte stark und klam­mern sich so an eine neue Form des alten Spiels, eine Art Ersatzreligion. Truffauts Protagonisten dage­gen gehö­ren kei­ner Herde an. Sie sind Liebhaber, Freunde, Menschen – und das ist manch­mal genug.

Bild: zVg.
ensuite, September 2017

 

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo