Urs Mannhart nach dem Luchs

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Von Eva Mollet - Urs Mannhart ist Schriftsteller, Velokurier und Gelegenheitsjournalist. Er wirkt ruhig, doch der Schein trügt. Urs braucht viel Bewegung. Die Frisur erin­nert an Beethoven. Der Kinnbart und die Koteletten wuchern. Ausnahmsweise trägt er kein Radfahrertrikot, dafür eine Bahnwärterjacke. Die Halskette aus ein­zel­nen Fahrradkettensegmenten abwech­selnd mit zu Ringlein gebo­ge­nen Speichenstücken ist selbst ange­fer­tigt. Dieser Schmuck ist nicht rost­frei und beschert brau­ne Flecken auf den T‑Shirts. Urs Mannhart ist dreis­sig Jahre alt und hat ein erfolg­rei­ches Buch geschrie­ben: «Luchs».

Vor ein paar Tagen in Berlin isst Urs einen Falaffel mit Joghurtsauce und bringt Bakterien mit nach Hause. Was tun? Er kann kei­ne Tabletten schlucken, also muss er Tricks anwen­den. Er streut das Pulver in den weis­sen Schaum eines Schokokusses: zu bit­ter. Eine ande­re Strategie: Er hal­biert die Tablette, steckt die bei­den Hälften in eine geschäl­te Banane und ver­schlingt die­se mög­lichst ohne zu kau­en.

Im kom­men­den Herbst wird Urs nach Berlin zurück­keh­ren. Er hat ein Stipendium gewon­nen. Mit ande­ren Autoren und Autorinnen wird er wäh­rend vier Monaten eine Villa aus­ser­halb der Stadt bewoh­nen. Sein Lieblingscafé ist sie­ben­und­zwan­zig Kilometer ent­fernt. Wie weit ist er mit dem näch­stes Buch? «Mein neu­es Projekt ist schon rela­tiv fort­ge­schrit­ten, kann aber immer noch wie eine Seifenblase plat­zen.» Mehr will Urs nicht ver­ra­ten. In Berlin wird er schrei­ben und recher­chie­ren, z. B. über die rumä­ni­schen Goldminen. Dieses Thema inter­es­siert ihn schon lan­ge. Ganze Berge wer­den ver­kauft, abge­tra­gen und aus­ge­beu­tet.

Wie kommt Urs Mannhart zum Velofahren und wie zum Schreiben? «Wenn man auf dem Land auf­wächst und der letz­te Bus früh fährt, nimmt man das Velo.» Er wächst an der Grenze zwi­schen Emmental und Oberaargau auf. Der Vater arbei­tet in einer Möbelfabrik, die Mutter ist Innendekorationsnäherin. Sein Vater ist ein Schönwetter-Sonntags-Hobby-Velofahrer.

In der Schule ist Urs ein guter Rechner, stricken mag er über­haupt nicht. «Die Nähmaschine fand ich super. Bis heu­te ver­ste­he ich nicht, wie sie genau funk­tio­niert.» Als Jugendlicher ist er intro­ver­tiert. Er fri­siert kein Töffli. Er liest wenig. Er läuft lie­ber OL und Langstrecken.

Wie die mei­sten vom Land macht er eine Lehre. Er lässt sich zum Heizungszeichner aus­bil­den. «Interessant war das Zeichnen. Das Technische dahin­ter hat mich nicht inter­es­siert. Nach der Lehre habe ich kei­nen Tag auf mei­nem Beruf gear­bei­tet.» Danach ist Urs ein hal­bes Jahr unter­wegs. Zurück in der Schweiz will er etwas ganz ande­res machen. Er holt er den Gymer nach und ent­deckt sein Interesse für die Literatur. Er ent­schei­det sich für ein Germanistikstudium. «Damals hät­te ich mir nie zuge­traut einen Roman zu schrei­ben.» Im fünf­ten Semester bricht er das Studium ab. Unterdessen arbei­tet er als Lokaljournalist und als Velokurier. «Velokurier wird man irgend­wie. Ich sass in einem Büro am Fenster und sah Kuriere vor­bei­fah­ren und dach­te: das will ich auch.»

 Luchs und Urs? Den Zivildienst macht Urs im Luchsprojekt. Biologen ver­se­hen Luchse mit Halsband und Sender, um deren Lebensweise genau­er zu erfor­schen. Während einem hal­ben Jahr darf Urs Mannhart Luchse pei­len, manch­mal per Auto, meist zu Fuss. Zu die­ser Zeit wer­den im Simmental vie­le Luchse gewil­dert oder ver­gif­tet. Einige Kadaver wer­den in Plastiksäcken mit Steinen im Fluss ver­senkt. Unterwegs trifft Urs Einheimische, die ihm «Allgottschand» sagen. Sie sind gegen die Ansiedlung der Luchse. Die Begegnungen mit Menschen und Tieren sind ein­drück­lich. Nach dem Projekt hat Urs viel zu erzäh­len. Die Leute sind inter­es­siert. Jemand regt ihn zum Schreiben an. Urs hat zu wenig Ausreden, es nicht zu tun. Der Text ist ein Selbstversuch. Er will eine glaub­wür­di­ge Geschichte erzäh­len. Die getö­te­ten Luchse sind real. Fiktiv sind die Geschichten dar­um her­um.

Es dau­ert vier Jahre, bis zum Erscheinen des Buches. Im Herbst 2004 ist es soweit. «Es ist extrem schön das eige­ne Buch in den Händen zu hal­ten. Schreiben ist für mich die Welt in eine Form brin­gen, die sie nicht hat. Was nicht geschrie­ben ist, gibt es nicht. Vieles ent­schei­det sich in Form von Sprache. In der Öffentlichkeit beginnt die Wirkung des Buches erst, wenn für mich der Entstehungsprozess abge­schlos­sen ist. An den Lesungen wird die Anonymität zwi­schen dem Autor und den Lesenden gebro­chen. Interessant ist, wenn Leser und Leserinnen von ihren Bezügen zum Buch erzäh­len.» Urs freut sich auf die vier Luchs-Wanderungen mit inte­grier­ten Lesungen vor Ort.

Zur Zeit weilt Urs in Sizilien mit Büchern und Notizbüchern. Er will sich die Stadt Siracusa anschau­en. Kürzlich war er in Triest. Recherchen in Italien für das näch­ste Buch? Es bleibt unge­wiss. Gewiss ist, zu Hause war­ten drei Fahrräder auf ihn. Zwei davon ste­hen im Flur, das ande­re steht im Zimmer. «Velos sind nicht mei­ne Haustiere; draus­sen rosten sie und wer­den geklaut.»

Bild: zVg.
ensuite, Mai 2006

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