Carl Albert Loosli – Gegen die gei­sti­ge Enge im Land

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Von Anne-Sophie Scholl - Carl Albert Loosli war ein Querdenker und Freigeist. Er war einer, dem die Schweiz eigent­lich längst zu eng war, der sein Land aber lieb­te und dar­an litt. Seine Schriften lesen sich heu­te wie ein histo­ri­scher Dringlichkeitskatalog und sind von ver­blüf­fen­der Aktualität. Zu sei­nen Lebzeiten war er ver­kannt und ver­femt und war doch einer der her­aus­ra­gend­sten, ehr­lich­sten, mutig­sten und unbe­stech­lich­sten Schweizer Schriftsteller und Intellektuellen des 20. Jahrhunderts.

 Nonkonform, geäch­tet und frei «Wer die Wonnen sou­ve­rä­ner Vogelfreiheit des nicht durch eige­ne Schuld gesell­schaft­lich Geächteten, Gebrandmarkten, Verfemten nie bewusst am eige­nen Leibe erlebt und bis zur Neige gründ­lich aus­ge­ko­stet hat, der ver­mag sich nicht vor­zu­stel­len wie viel lei­den­schaft­lich inten­si­ven Lebens und Strebens ihm ver­sagt geblie­ben ist. Der im buch­stäb­li­chen und über­tra­ge­nen Sinn Uneheliche lernt, bewusst oder unbe­wusst, gewollt oder unge­wollt sei­nen Blick schär­fen, die Menschen samt ihren Institutionen, ihrer Moral, ihrem Treiben und Streben aus tie­fem Herzensgrund ver­ach­ten, sich rebel­lisch, anar­chi­stisch dar­über hin­weg­zu­set­zen.» So hat Carl Albert Loosli bit­ter­bös fest­ge­hal­ten, wie ihm die frü­he gesell­schaft­li­che Ächtung gleich­zei­tig auch einen hohen Grad inne­rer Freiheit ermög­licht hat. Er war in Umständen gebo­ren wor­den, die für sein wei­te­res Leben immer wie­der von Bedeutung wer­den wür­den. Als unehe­li­ches Kind kam er 1877 in Schüpfen bei Bern zur Welt und wur­de kurz nach sei­ner Geburt an sei­ne künf­ti­ge Pflegemutter wei­ter­ge­ge­ben, da die Grosseltern müt­ter­li­cher­seits die Heirat sei­ner leib­li­chen Eltern zu ver­hin­dern gewusst hat­ten.

Die Kindheit in der Obhut sei­ner Pflegemutter war ein Glücksfall. Mit deren frü­hem Tod brach aber für den gera­de erst 12-jäh­ri­gen Loosli eine Welt zusam­men. Seine Pflegemutter hat­te vor­ge­sorgt. Und so kam der jun­ge Loosli in das für die dama­li­ge Zeit ansehn­li­che Erziehungsheim Grandchamp bei Neuchâtel. Schon kur­ze Zeit spä­ter wur­de die­ses Heim aber geschlos­sen und der jun­ge Loosli an die Vormundschaftsbehörden sei­ner Heimatgemeinde Sumiswald über­ge­ben. Neben Aufenthalten in ande­ren Anstalten, wur­de er zwei­mal in die auto­ri­tä­re Jugendstrafanstalt Trachselwald über­wie­sen. Mit 24 Jahren gelang es C. A. Loosli schliess­lich, sich von den Vormundschaftsbehörden frei zu machen. Er hat­te sich in der Zwischenzeit als Gerichtsberichterstatter betä­tigt und als Redaktor des Berner Boten und der Berner Tagwacht eine Existenz auf­ge­baut. 1903 hei­ra­te­te er und liess sich im dar­auf fol­gen­den Jahr in Bümpliz nie­der.

Die eige­nen Erlebnisse in ver­schie­de­nen Anstalten, die feh­len­de fami­liä­re Geborgenheit, die Erfahrung, mit der ihn umge­ben­den Gesellschaft nicht kon­form zu sein und sei­ne Einblicke in die Rechtspraxis als Gerichtsberichterstatter bestärk­ten in ihm eine ein­ge­hen­de Auseinandersetzung mit gesell­schafts­po­li­ti­schen Fragen. Durch das eige­ne Leben geprägt, mach­te er sich stark für die Einführung eines eigent­li­chen Jugendgesetzes und für die kind­ge­rech­te Erziehung Kinder und Jugendlicher. Er kämpf­te gegen die Versorgung straf­fäl­li­ger Jugendlicher und gegen die ver­brei­te­te Verdingungspraxis, mit der ver­wai­ste oder unter­be­mit­tel­te Kinder an eigent­li­chen «Chindsmärten» von den­je­ni­gen erstei­gert wer­den konn­ten, die den Gemeinden zusi­cher­ten, die nied­rig­sten Unterstützungsbeiträge ein­zu­for­dern.

 Homme de lett­res Mit sei­nem sozi­al­po­li­ti­schen Engagement erwarb sich Loosli einen Ruf als Anwalt der Armen. Doch C. A. Loosli war eine her­aus­ra­gen­de Figur mit vie­len Facetten, ein «Homme de lett­res», wie er sich sel­ber zu bezeich­nen pfleg­te, einer, der sich der Gesellschaft und sei­nem eige­nen Gewissen ver­pflich­tet fühl­te: «Ich ach­te die Kunst hoch, geste­he ger­ne, dass mir nichts voll­kom­me­ner wäre, als mich ihr ganz und aus­schliess­lich zu wid­men, doch acht­ba­rer, erha­be­ner noch ist mir der Menschen Leiden», sagt der, der für ein huma­ne­res Asylrecht kämpf­te und bereits vor dem zwei­ten Weltkrieg ein­set­zen­de Judenhetze warn­te. C. A. Loosli ver­stand es, sozi­al­po­li­ti­sche Anliegen mit künst­le­ri­schem Anspruch und lite­ra­ri­schen Fähigkeiten zu ver­bin­den, er ver­ein­te in sei­ner Person den Journalisten und den Schriftsteller. Der «Philosoph von Bümpliz», wie ihn sein Freund, der Literaturwissenschaftler Jonas Fränkel ehren­voll beti­telt hat­te, ver­kehr­te mit vie­len Künstlern der dama­li­gen Zeit, kann­te Emil Zola, wur­de von Carl Spitteler geschätzt, war mit Simon Gfeller befreun­det, mit Cuno Amiet und mit Ferdinand Hodler, über den und des­sen Werk er die erste Biographie ver­fasst hat.

Heute ist Carl Albert Loosli noch am ehe­sten bekannt als Mundartdichter: Um 1910 ver­öf­fent­lich­te er die Dialektbücher «Mys Dörfli» und «Üse Drätti» sowie mit der Gedichtsammlung «Mys Ämmitaw» eine Liebeserklärung an das Emmental in klas­si­schen Versformen. Anliegen war ihm, sich für die Mundart als eigen­stän­di­ge, kraft­vol­le Sprache ein­zu­set­zen und sich für die Kultur der ein­fa­chen Leute auf dem Land, die «gesell­schaft­lich Enterbten», stark zu machen. Mundartliteratur wur­de in die­sen Jahren rezi­piert, jedoch war das lite­ra­ri­sche Publikum vor­ab für folk­lo­ri­stisch ange­hauch­te, idea­li­sie­ren­de Darstellungen emp­fäng­lich. Looslis Geschichten von Bräuchen wie bei­spiels­wei­se dem «Fensterlen», einer auf dem Land damals noch ver­brei­te­ten Art der Brautwerbung, wur­de als unsitt­lich emp­fun­den, sei­ne Sprache als zu derb und dra­stisch für die Empfindungen der städ­ti­schen intel­lek­tu­el­len Elite, was Loosli dazu brach­te, sich von dem Schreiben in Mundart abzu­wen­den und vor allem wie­der in Deutsch und Französisch zu publi­zie­ren. Idealisierende Tendenzen in der Entwicklung des Schweizer Heimatschutzes, die den Positionen in der Literaturszene ver­gleich­bar waren, bewo­gen C. A. Loosli dazu, sich von die­ser Organisation eben­falls zu distan­zie­ren, nach­dem er nicht unwe­sent­lich zu ihrer Gründung 1905 bei­getra­gen hat­te.

 Kritiker mit spit­zer Feder Loosli war ein kom­pro­miss­lo­ser Schriftsteller von aus­se­ro­dent­li­cher gei­sti­ger Brillanz und stu­pen­der Begabung auf allen mög­li­chen Gebieten. «Ich brau­che nichts umzu­lü­gen, nichts zu ver­ber­gen – ich darf alles, die vol­le Wahrheit sagen, weil ich nichts zu ver­lie­ren, folg­lich auch nichts zu fürch­ten habe», schreibt er. Neben sei­ner Herkunft, war es aber auch C. A. Loosli sel­ber, der sich 1913 mit dem so genann­ten Gotthelfhandel wei­ter ins gesell­schaft­li­che Abseits manö­vrier­te: Mit der Behauptung, Gotthelfs Texte sei­en in Wirklichkeit von einem ande­ren geschrie­ben, insze­nier­te er in den Medien eine hef­ti­ge Debatte über die Urheberschaft die­ser Texte. Was als Satire auf die dama­li­ge Literaturwelt gemeintwar,diesichimmerwenigermitdeneigentlichen Texten der Schriftsteller befass­te, son­dern zuneh­mend mit sekun­dä­ren Schriften, wur­de in der wel­schen Schweiz auch zumeist als sol­che ver­stan­den. Aber: «Les Zurichois ne vous par­don­nent pas vot­re plais­an­te­rie», warn­te sein Freund René Morax und soll­te damit Recht bekom­men. Seine Eulenspiegelei wur­de Loosli in der Deutschschweiz übel genom­men: In der Folge der Gotthelfaffäre erklär­te der dama­li­ge mass­ge­ben­de Literaturpapst Hans Trog Loosli öffent­lich für lite­ra­risch gestor­ben.

Zu der Zeit, als er den so genann­ten Gotthelfhandel insze­nier­te, war C. A. Loosli kein unbe­deu­ten­der frei­er Schriftsteller, son­dern Initiant der gros­sen Gotthelf-Werkausgabe sowie Präsident des neu gegrün­de­ten Schweizer Schriftstellerverbandes SSV. Ein Jahr zuvor hat­te er die­sen Verband ins Leben geru­fen, nach­dem er an der Seite Ferdinand Hodlers von 1908 bis 1912 Generalsekretär der neu gegrün­de­ten Gesellschaft schwei­ze­ri­scher Maler, Bildhauer und Architekten GSEMBA (heu­te VISARTE) gewe­sen war. In jah­re­lan­gem Engagement hat­te er sich für eine Verbesserung der Lebensund Berufssituation der Künstler im Allgemeinen und der Schriftsteller im Besonderen ein­ge­setzt.

Die inten­si­ve Auseinandersetzung mit der zu Lebzeiten dif­fa­mier­ten Figur Carl Albert Looslis erschliesst­so­zi­al-undideengeschichtlicheZusammenhänge der Schweizer Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die bei­den bereits erschie­ne­nen umfas­sen­den Bände sei­ner Biografie sind eine kul­tur­ge­schicht­li­che Fundgrube und bie­ten kri­ti­sche Einsicht in die viel­fäl­ti­gen Gesellschaftsbereiche, in denen sich Loosli bewegt hat. Carl Albert Loosli selbst zu Wort kom­men lässt die ent­ste­hen­de Werkausgabe, die zum fünf­zig­sten Todesjahr des her­aus­ra­gen­den Publizisten voll­endet sein wird. Mit die­ser Werkausgabe wer­den vie­le sei­ner Schriften zum ersten Mal greif­bar: In mar­kan­ter Sprache, geord­net nach ein­zel­nen Themengebieten, steht sein Nachlass in Briefen, Satiren, Essays oder kur­zen lite­ra­ri­schen Formen ein für sein histo­risch zukunft­wei­sen­des Engagement in so viel­fäl­ti­gen Bereichen wie der Jugenderziehung, des Strafvollzugs, der Literaturpolitik, der Demokratie und ihrer Lücken, der Asylpolitik und der ver­folg­ten jüdi­schen Minderheit sowie für Sachverständnis in schwei­ze­ri­scher Kunst der Moderne.

Loosli war ein Mann, der mehr als Mittelmass ver­lang­te: «Der gesun­de Menschenverstand ist weder ein kri­ti­scher Wertmesser, noch ein auch nur eini­ger­mas­sen zuver­läs­si­ger künst­le­ri­scher Richter, son­dern, gün­stig­sten Falles, ein beque­mes Verkehrsmittel», liest man bei ihm. Gefeiert wird das Erscheinen der bei­den ersten Bände und somit der Start der längst fäl­li­gen Werkausgabe mit einer Vernissage im Schlachthaus Theater Bern. Endo Anaconda, wort­ge­wal­ti­ger Frontmann der bekann­ten Berner Formation Stiller Has, kennt die Schriften des «Philosophen von Bümpliz» und wird dem ver­kann­ten Schriftsteller sei­ne Stimme lei­hen.

Bild: zVg.
ensuite, November 2006

 

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