Versuch über die Poesie

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Von Eva Pfirter - Was hat Poesie mit Sport zu tun? Gar nichts, möch­te man mei­nen. Und doch gibt es seit eini­ger Zeit ein Phänomen im Sportzirkus, das eine sol­che Parallele zulässt, ja sogar for­dert. Das Phänomen heisst Roger Federer. Und schlägt den wich­tig­sten Schlag des Weissen Sport per­fekt: den Aufschlag.

Wimbledon im Sommer 2003: Roger Federer fällt auf die Knie, schlägt die Hände vors Gesicht und sinkt von Emotionen über­wäl­tigt auf den Heiligen Rasen. Er hat zum ersten Mal sein Idol Pete Sampras geschla­gen. Und das nicht irgend­wo. Wimbledon ist für die Tenniswelt das wich­tig­ste Turnier über­haupt: Tennis auf einer schwie­ri­gen, manch­mal unbe­re­chen­ba­ren Unterlage. Unter oft wid­ri­gen Umständen wie Wind und Regen. Mitten im Tennis-Jahr zwi­schen aus­klin­gen­der Sand-Saison in Rom und begin­nen­der Hart-Platz-Tour in den USA. Und doch stimmt eini­ges im sonst so zurück­hal­ten­den England: die Fans, die tage­lang vor den Mauern der Rasenplätze cam­pie­ren, die lan­ge, fast schon roman­ti­sche Tradition des Turniers und natür­lich das Outfit: ganz in weiss. So wie es sich für einen Tennis-Gott gehört. Weiss auf grün.

Im Moment des Triumphes über Pete Sampras, den Tennis-König der neun­zi­ger Jahre, beginnt etwas, wovon genaue Beobachterinnen schon lan­ge etwas geahnt haben: die Poesie des Feder’schen Tennis.

Doch was ist bei Roger anders als bei ande­ren Tennisspielern? Weshalb wirkt das Spiel eines Andy Roddick zwar ath­le­tisch, aber weit­aus weni­ger ele­gant? Weshalb schei­nen die mit geball­ter Faust erkämpf­ten Siege eines Lleyton Hewitt viel müh­sa­mer? Und wes­halb kommt der grös­se­re und kräf­ti­ge­re Russe Marat Safin ein­fach nicht gegen Roger an?

Jeder der oben genann­ten Spieler mit Ausnahme von Roger sind auf der Suche nach dem spie­le­ri­schen Gleichgewicht. Marat Safin über­powert in den wich­tig­sten Momenten des Spiels. Lleyton Hewitt ist viel zu aggres­siv, um noch kon­zen­triert spie­len zu kön­nen. Andy Roddick scheint noch nicht ganz bei sei­ner urei­ge­nen Spielweise ange­kom­men zu sein. Und Roger? Roger scheint sich seit unzäh­li­gen Monaten in einem fast schon unheim­li­chen Gleichgewicht zu befin­den. Dem Gleichgewicht der Ästhetik.

Die Kunst des Tennis fängt beim Aufschlag an und hört beim Aufschlag auf. Kein ande­rer Schlag erfor­dert so viel Koordination, Konzentration und Präzision. Der Aufschlag ent­schei­det über Sieg und Niederlage, über die Konstanz eines Spielers. In den heis­se­sten Phasen eines Matches muss der Aufschlag sit­zen­prä­zi­se und knall­hart. Und er kann noch mehr: schön sein. Ästhetisch. Gar schon: Poesie.

Rogers Aufschlag ist Poesie. Wir sehen ihn vor uns: ruhig und kon­zen­triert steht er hin­ter der rech­ten Feldhälfte. Der lin­ke Fuss ist vor­ne, leicht ange­schrägt wie die lin­ke Schulter zum rech­ten Netzpfosten schau­end. Das Gewicht liegt auf die­sem Bein, wäh­rend das ande­re, das rech­te, erst spä­ter zum Einsatz kommt. Der Ball springt. Ein dump­fes auf und ab. Die lin­ke Hand scheint die gel­be Kugel an einem unsicht­ba­ren Faden tan­zen zu las­sen. So lan­ge, bis es still ist um den Platz, bis der Ball per­fekt springt, bis er auf die rich­ti­ge Weise in der lin­ken Handfläche zu lie­gen kommt. Dann fliegt er nach oben. Senkrecht. Hinauf in den Himmel. Und wäh­rend­des­sen dehnt sich der Körper wie eine Feder nach hin­ten: erst der rech­te Arm, der in einem Halbkreis Schwung holt, gefolgt vom Oberkörper, der durch die Drehung nach hin­ten dem Schlag Kraft ver­leiht, beglei­tet von einer Gewichtsverlagerung vom lin­ken aufs rech­te und wie­der aufs lin­ke Bein. Der gan­ze Körper scheint dem klei­nen gel­ben Stern zu fol­gen; sein Schweif ist mass­ge­bend für Beschleunigung oder Verlangsamung der Bewegung. In dem Moment, in dem der Ball die per­fek­te Höhe erreicht hat, kata­pul­tiert das in der rech­ten Hand lie­gen­de Racket den aus allen Teilbewegungen sum­mier­ten Schwung in einen ein­zi­gen Schlag. Das Gewicht schnellt vom rech­ten zurück aufs lin­ke Bein. Der Körper spickt nach vor­ne. Der Schlagarm fährt weit über die Grundlinie in Richtung geg­ne­ri­sches Feld. Die Augen bah­nen dem Ball prä­zi­se den Weg. Man(n) schlägt, wohin man schaut: ent­we­der auf die Mittelinie oder die Aussenlinie. Beide Platzierungen sind für den Gegner nur schwer halt­bar. Vor allem, wenn das gel­be Etwas mit rund zwei­hun­dert Stundenkilometern ange­flo­gen kommt.

Es ist weni­ger die kör­per­li­che Konstitution, die einen Aufschlag per­fekt macht, als die men­ta­le Stärke, die einen Spieler aus­zeich­net. Wer beim Aufschlag schon an den näch­sten Schlag denkt, hat ver­lo­ren. Wer alle Bewegungen koor­di­nie­ren will, kommt durchs ange­streng­te Denken in ein Ungleichgewicht. Wer den Aufschlag nach dem Buche schlägt, wird nie sei­ne per­fek­te Position fin­den.

Roger hat sie gefun­den. Auf dem Platz und in sich. Wer genau hin­schaut, sieht das. Alles scheint ganz leicht. Sein Racket wirkt wie ein Teil von ihm. Es führt alle Bewegungen ele­gant und kraft­voll aus. Und er strahlt die­se Ruhe aus, die im Weissen Sport Gold wert ist. Die Ruhe, bloss an den näch­sten Punkt zu den­ken. Sich Schritt für Schritt ein Match zu erkämp­fen. Auf sich ver­trau­en zu kön­nen. Auf die Koordination aller erfor­der­li­chen Teilbewegungen.

Der Aufschlag ist ein Ganzes, kei­ne Aneinanderreihung von ein­zel­nen Bewegungen. Ich wür­de sogar noch wei­ter gehen: man hat ihn oder man hat ihn nicht. Kann man je tan­zen ler­nen? Sicher: man kann Tanzschritte ler­nen. Aber das Gefühl, in wel­cher Sekunde wel­che Bewegung der Musik ent­spricht, von ihr getra­gen und lieb­kost wird, ist nicht lern­bar. Die Verschmelzung der Bewegung mit Musik ist Poesie. Die Verschmelzung des Menschen mit dem klei­nen gel­ben Ball ist Tennis. Und wenn Roger Federer Tennis spielt, ist Tennis Poesie.

Bild: Wikipedia
ensuite, September 2005

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