Klingende Stille

Von

|

Drucken Drucken

Von Helen Lagger - Das Palais de Tokyo in Paris zeigt das Universum des vor drei Jahren ver­stor­be­nen Künstlers Chen Zhen. Dessen Hauptanliegen war es, mensch­li­che Los zu ver­ste­hen und zu ver­bes­sern.

Das Palais de Tokyo im schö­nen 16.Arrondissement, einen Steinwurf vom musée d’art moder­ne ent­fernt, ist immer wie­der einen Besuch wert. Die Stimmung ist viel mehr leben­dig als muse­al. Kinder ren­nen umher und hau­en auf die auf­ge­stell­ten Trommeln. Das hat nichts mit Schändung zutun, denn genau dazu for­dert das Werk die Besucher auf. Die rie­si­ge Installation, bei der Betten und Stühle in Trommeln umge­stal­tet wur­den, hat Chen Zhen 1998 für das Tel Aviv-Museum kre­iert. Inspiriert dazu hat ihn ein Abend, den er in Jerusalem ver­brach­te und von den Nachbarn ara­bi­sche Musik zu hören war. Im Kontext des Israel-Palästina-Konflikts kam ihm die bud­dhi­sti­sche Maxime „jedem fünf­zig Schläge“ in den Sinn. „Weil ich die Leute nicht schla­gen konn­te hat­te ich die Idee die Objekte zu schla­gen auf die wir uns set­zen und auf denen wir schla­fen“, kom­men­tier­te der Künstler damals sein Werk. Im Palais de Tokyo aus­ge­stellt hat das Werk sei­nen poli­ti­schen Kontext ver­lo­ren. Das Trommelschlagen bekommt hier einen the­ra­peu­ti­schen Zweck, soll zur Performance ein­la­den und die für Chen Zhen wich­ti­ge Komplexität eines wah­ren Kunstwerkes aus­strah­len. An der Vernissage weih­ten ein chi­ne­si­scher Komponist, ein Tänzer und zwei Perkussionisten das Werk ein. Wer ist die­ser Chen Zhen, dem die Kommunikation zwi­schen den Menschen so wich­tig ist und des­sen Werke manch­mal eher der Philosophie als der Kunst zuzu­ord­nen sind? Chen Zhen wur­de 1955 in Shanghai gebo­ren. Im kom­mu­ni­sti­schen China erleb­te er die Periode der Kultur-Revolution, die das Denken eines gan­zen Volkes beein­fluss­te. Die ein­zi­ge Möglichkeit sich mit Kunst zu befas­sen war sehr tra­di­tio­nell. Chen Zhen lern­te zu Malen, zu Zeichnen und zu Skulptieren. 1976 ging die Ära der Kultur-Revolution zu Ende und eine gan­ze Generation von Künstlern inter­es­sier­te sich für den Westen. 1986 kam Chen Zhen nach Paris und besuch­te die Ecole des Beaux Arts. Seine Kunstwerke blie­ben immer in Interaktion mit sei­ner eige­nen Kultur. Trotzdem muss­te Chen Zhen sei­ne Identität neu fin­den, nach­dem er Sprache, Kunstgeschichte und west­li­ches Denken in Frankreich ken­nen gelernt hat­te. Auf einer gros­sen schwar­zen Tafel hat der Künstler auf chi­ne­sisch und fran­zö­sisch geschrie­ben: Die wich­tig­ste Sache in der Kunst ist es, zuerst die Identitätskarte des Künstlers zu zei­gen“. Darunter ist eine Kopie sei­nes chi­ne­si­schen Passes und sei­ner tem­po­rä­ren Aufenthaltsbewilligung in Frankreich zu sehen. Dieses Werk ist iro­nisch und han­delt davon, dass man von einem chi­ne­si­schen Künstler immer auch chi­ne­si­sche Kunst erwar­tet. Chen Zhen sieht sich selbst viel eher wie einen Einwanderer und „Vagabunden der Kultur“. Nie hat­te er an Ausstellungen das Gefühl China zu reprä­sen­tie­ren. Der Künstler hat sich also früh mit Themen befasst, die noch heu­te in der Gegenwartskunst dis­ku­tiert wer­den: Sollte man die Länderpavillons an der Biennale in Venedig nicht längst abschaf­fen? Gibt es einen typisch bel­gi­schen Künstler, eine schwei­ze­ri­sche Kunst etc. in einer glo­ba­li­sier­ten, post­mo­der­nen Welt über­haupt noch? 1993 kehr­te Chen Zhen nach Shanghai zurück und ent­deck­te die Konsequenzen des in China ein­ge­führ­ten Kapitalismus. Die Stadt ist zu einer ein­zi­gen Baustelle gewor­den. Riesige Werbeplakate for­dern die Leute auf, sich ein Auto zu kau­fen. Chen Zhen hat sich mit einem Werk, das in der Eingangshalle des Palais de Tokyo hängt, mit der rasan­ten Urbanisierung aus­ein­an­der­ge­setzt. Das Werk ist 25 Meter lang und setzt sich aus Veloschläuchen zusam­men, die unter dem Druck der sich über­all befin­den­den Autos zu zer­plat­zen schei­nen. Von einer gewis­sen Distanz aus betrach­tet erkennt man ganz deut­lich, dass das Ganze die Form eines Drachens hat, wie ihn die Chinesen an der Neujahrsfeier durch die Strassen tra­gen. (Übrigens auch in Paris ein sehens­wer­tes Spektakel). Chen Zhen hat die Beziehung Mensch, Natur und Konsumgesellschaft hin­ter­fragt. Es ist ihm dabei aller­dings nicht um die Verherrlichung der Vergangenheit gegan­gen, son­dern um die Darstellung eines para­do­xen und sich im Aufbruch befin­den­den Landes. Um ein ähn­li­ches Thema geht es in der 1997 kre­ierten Installation. An einem metal­li­schen Gerüst hän­gen zehn „objets trou­vés“. Alle die­se Objekte wer­den durch Bambus ver­bun­den um so das Dach eines Tempels zu bil­den. Im Zentrum die­ses Tempels hän­gen unge­fähr fünf­zig Buddhas mit dem Kopf nach unten. So wird der Kontrast zwi­schen den omni­prä­sen­ten bud­dhi­sti­schen Tempeln und den Industrieabfällen, die die Landschaft prä­gen, dar­ge­stellt. Dies wird im Titel offen­sicht­lich, der auf chi­ne­sisch ein Wortspiel enthält:„Fu Dao/Fu Dao“ bedeu­tet je nach Aussprache umge­kehr­ter Buddha oder die Ankunft des Glücks. Dass es Chen Zhen um die­se Kontraste geht, wird auch im Ausstellungstitel deutlich:„Silence Sonore“ (Klingende Stille) fasst die Werke zusam­men. Nachdem man sich aus­ge­trom­melt hat, kann man einen Zen-Garten betre­ten und dann wie­der ganz der Stille lau­schen.

Meine per­sön­li­chen Lieblinge der Ausstellung sind die „Dörfer ohne Grenzen“. Chen Zhen wur­de 1999 nach Brasilien ein­ge­la­den, um mit Kindern aus schwie­ri­gen Verhältnissen über Architektur und Städtebau zu dis­ku­tie­ren. Er liess sie aus Kerzen Häuser bau­en. In China bedeu­ten Kerzen die Dauer eines Menschenlebens. Entstanden sind klei­ne „Lichtaltäre“. Zurück aus Brasilien hat Chen Zhen dem Projekt eine uni­ver­sel­le Dimension ver­lie­hen. Er hat neun­und­neun­zig Stühle aus der gan­zen Welt gesam­melt und dar­auf aus Kerzen Häuser gebaut. So ist das Dorf ohne Grenzen ent­stan­den. Das Palais de Tokyo zeigt sech­zehn die­ser fan­ta­sie­voll-poe­ti­schen Lichtaltäre.

Das Palais de Tokyo ist auch einen Besuch wert, weil es Vitrinen mit Design und Vintage-Schuhen gibt, weil der Boden der Cafeteria mit Blumen bemalt ist und man auf ganz nied­ri­gen Stühlen an noch nied­ri­ge­ren Tischen sitzt und weil es da so vie­le hip­pe Magazine zu betrach­ten gibt und die neu­sten Bücher über Gegenwartskünstler, Design und Mode. Zurzeit ver­kau­fen sich sol­che Bücher wie war­me Semmeln. Wie viel davon gele­sen und ver­stan­den wird sei dahin­ge­stellt. Ein jeder Bobo (bohé­mi­en bour­geois), wie die Franzosen tren­di­ge Schöngeistler ein wenig abschät­zig bezeich­nen, muss heut­zu­ta­ge ein­fach ein paar sol­che Bücher in sei­ner Bibliothek vor­wei­sen kön­nen.…

Palais de Tokyo
13, ave­nue du Président Wilson
75116 Paris
Metro: Alma-Marceau
Bis am 18. Januar 2004

Bild: zVg.
ensuite, Dezember 2003

 

 

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo