Freiheit oder Kindheit? Deborah Feldman und Jeanette Winterson

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Von Dr. Regula Staempfli - Es gibt zwei Bücher, die den Weg aus den selbst- und fremd­ge­wähl­ten Gefängnissen wei­sen: Deborah Feldmans „unor­tho­dox“ und Jeannette Wintersons „Warum glück­lich statt ein­fach nur nor­mal?“ Beide Schriftstellerinnen erzäh­len vom Wert der Aufklärung, Emanzipation, Befreiung und über das Mensch-Sein. Sie sind um eini­ges wich­ti­ger als all die hete­ro­nor­ma­ti­ven Männerromane, die irgend­ein bekiff­tes Coming-of- Age beschrei­ben. Doch gera­de des­halb wer­den die bei­den Bücher viel zu sel­ten mit dem Hinweis auf deren lite­ra­ri­sche Qualität rezen­siert. Sie wer­den unter „Frauenliteratur“ auf dem Büchergestell des Vergessens ent­sorgt, statt zu den Standardwerken zu zäh­len, die alles mensch­li­che Leben trans­for­miert – nicht „nur“ das von „Frauen.“

Unorthodox von Deborah Feldman (2012 ame­ri­ka­nisch, 2016 deutsch), wächst in Williamsburg, mit­ten in N.Y. in einer ortho­do­xen Sekte auf. Jeannette Winterson (2011 eng­lisch, 2013 deutsch) ist das Adoptivkind einer fana­ti­schen Pfingstsekten-„Mutter.“ Beide erzäh­len furi­os, wie es ist, alles zu ver­las­sen, das man kennt, nur, um sich sel­ber sein zu dür­fen. Beide Romane wer­den auch in 50 Jahren noch aktu­ell sein. Leider. Denn es geht in erster Linie nicht ledig­lich um unglück­li­che Kindheit, son­dern um die Kräfte, die es jedem Menschen ermög­li­chen, aus­zu­bre­chen.

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„unor­tho­dox“ von Deborah Feldman schlug bei sei­nem Erscheinen in New York wie eine Bombe ein. Da wur­de ein Judentum erzählt, das so gar nicht in den all­täg­lich-leich­ten Umgang mit der tra­di­ti­ons­rei­chen Schriftkultur pas­sen woll­te. Die Satmarer bil­den in Williamsburg eine jener chas­si­di­schen Sekten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA nie­der­lies­sen und deren Sinn vor allem dar­in besteht, die als Strafe Gottes emp­fun­de­ne Shoa rück­gän­gig zu machen. Feldmans Beschreibung ihrer, von der Sekte gepräg­ten Kindheit, erklärt mehr über den reli­giö­sen Fundamentalismus, die Mechanismen von Parallelgesellschaften als alle Wissenschaftspublikationen zusam­men. Satmarer wach­sen inmit­ten von N.Y. in einem hip­pen Quartier in Brooklyn auf und dür­fen kein Wort eng­lisch spre­chen, da die Sprache „unrein“ ist. Der Alltag ist für Männer mit Beten, etwas Handwerkarbeit, wie­der Beten und Kinderzeugen regu­liert. Frauen sind Gebärmaschinen für den gött­li­chen Auftrag, wobei Sex auf die eine Hälfte des Monats redu­ziert ist – schliess­lich ist der weib­li­che Körper von „Natur aus“ unrein. Bücher, Filme, Musik, alles was mit Befreiung zu tun hat, gilt als schlimm­ste Gotteslästerung.

Klingt dies bekannt?

Das isla­mi­sti­sche Pendant lies­se sich bei Khaled Hosseinis „Drachenläufer“ ver­or­ten mit dem gros­sen Unterschied, dass sich im Roman nicht das Opfer sel­ber befrei­en kann, son­dern auf den zunächst fei­gen Zuschauer und Mittäter ange­wie­sen ist und des­halb nicht die­sel­be eman­zi­pa­to­ri­sche Kraft auf­weist wie Feldman und Winterson.

Deborah Feldman weiss wun­der­bar zu erzäh­len von den teil­wei­se magisch-schö­nen jüdi­schen Ritualen, durch­drun­gen von Ekel und Fassungslosigkeit über Geisteszustände von erwach­se­nen Menschen. Feldman befreit sich davon mit Poesie und einer Vorstellungskraft, die auch Anderen Vorbild sein könn­te. Welche 24jährige kann schon von sich behaup­ten, dass sie ihre Träume von Unabhängigkeit ver­wirk­li­chen wag­te? „Ich habe mich von mei­ner Vergangenheit befreit, aber ich habe sie nicht los­ge­las­sen. Ich schät­ze die Augenblicke und Erfahrungen, die mich geformt haben.“ (S.308)

Eine ähn­li­che Transformation ist bei Jeanette Winterson zu fin­den. Die Pfingstlerin, Mrs Winterson, hat­te sich ihre Adoptivtochter als Missionarin pro­gram­miert und schlägt unvor­stell­ba­re kör­per­li­che und see­li­sche Wunden in das, von ihr aus­ge­wähl­te Kind. Die Einkerkerung des Menschen in ein all­täg­li­ches, reli­giö­ses Folterprogramm, dem sich die Tochter ent­zieht, indem sie flieht, um mit ihrer Geliebten glück­lich zu wer­den. Fassungslos fragt Mrs Winterson: „Why be hap­py, when you could be nor­mal?“ Warum in aller Welt willst Du glück­lich wer­den, wenn nor­mal doch längst genügt? Wer hat dies in der Deutschschweiz oder in Deutschland nicht auch schon erfah­ren, wenn wie­der und wie­der Sprichwörter wie „zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen“ oder „him­mel­hoch­jauch­zend, zu Tode betrübt“ wie Warnungen ver­schos­sen wer­den. All die­sen Ideologien ist das wah­re Glück, das sich meist in wah­rer Liebe zeigt, der gröss­te Feind, denn nur mit Unglücksfiktionen las­sen sich Menschen ewig unten hal­ten.

Sowohl bei Deborah Feldman als auch bei Jeannette Winterson legen indi­vi­du­el­le Neugier, Selbstzweifel, Kritik und vor allem die Literatur den Weg zur Befreiung. Menschsein defi­niert sich eben nicht durch Herkunft, Biologie und Gefängnis, son­dern mit dem fei­nen Gewebe, das sich durch die Worte Anderer zum Sprungbrett der Lebendigkeit trans­for­miert.

„In der Odyssee wird Odysseus bei all sei­nen Abenteuern und Wanderungen immer wie­der an die Heimkehr erin­nert. Die Reise dreht sich um die Heimkehr. Als er nach Ithaka kommt, ist alles in Aufruhr, sei­ne Frau kann sich kaum ret­ten vor ent­hemm­ten Freiern. Zwei Dinge gesche­hen: Sein Hund nimmt sei­ne Witterung auf, und sei­ne Frau erkennt ihn an der Narbe an sei­nem Oberschenkel. Sie tastet die Wunde ab.

Es gibt sovie­le Geschichten über Wunden.“ (Winterson, S.240)

Der Schlüssel zum Menschsein liegt oft in einer Wunde, die sich mit einem „r“ in der deut­schen Sprache sofort in ein „Wunder“ ver­wan­delt. Deshalb zum Schluss mei­ne Triggerwarnung: Sowohl Deborah Feldman als auch Jeanette Winterson könn­ten Ihr Leben ver­än­dern.

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