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«2049»

Von Luca Zacchei – Wie es anfing und was sich genau abge­spielt hat, habe ich lei­der nicht per­sön­lich mit­er­lebt. Damals war ich noch nicht gebo­ren. Uns wur­de über­lie­fert, dass die Welt ent­zweit wor­den war. Der Prozess ging schlei­chend vor­an. Auf der einen Seite gab es die «Aussteiger»: Lehrer, Handwerker, Psychologen, Ärzte, Verkäufer und Manager, die aufs Land zogen und Bauern wur­den. Auf der ande­ren Seite fan­den sich die «Performer»: Menschen, die sich wei­ter­hin nach Fortschritt und Wachstum sehn­ten und mehr­heit­lich in städ­ti­schen Gebieten wohn­ten. Der Austausch zwi­schen die­sen Gruppierungen beschränk­te sich auf ein Minimum und war rein wirt­schaft­li­cher Natur: die «Aussteiger» ver­kauf­ten ihre über­schüs­si­gen Naturerzeugnisse, damit sie Werkzeuge und lebens­not­wen­di­ge Produkte erwer­ben konn­ten. Die «Performer» waren hin­ge­gen froh, wenn sie zwi­schen­durch die schmack­haf­ten Früchte der «Aussteiger» kau­fen konn­ten.

Bei den «Performern» dik­tier­te der tech­no­lo­gi­sche Fortschritt das Tempo. Die Menschen arbei­te­ten zumeist von zuhau­se aus. Ihre Aufgaben erhiel­ten sie von einer zen­tra­len Datenbank, wel­che dank Verbesserungen im Bereich der künst­li­chen Intelligenz die Arbeit zwi­schen den Menschen und den Maschinen mit akku­ra­ter Effizienz koor­di­nier­te und opti­mal allo­zier­te. Die intel­li­gen­te Datenbank, wel­che auch «die all­wis­sen­de Wolke» genannt wur­de, zen­tra­li­sier­te das Wissen der «Performer». Jede Information wur­de in Echtzeit gespei­chert: die jewei­li­gen Krankheiten, die per­sön­li­che Familiensituation, die Religionszugehörigkeit, die gelei­ste­ten Arbeitsstunden und die Freizeitbeschäftigungen. Der Wolke ent­ging fast nichts. Die Daten wur­den von einem Implantat im Ohr aus gesen­det, das sogar das Gesprochene simul­tan auf­nahm. Diese Transparenz war not­wen­dig gewor­den, damit das Wirtschaftssystem schnel­ler auf exter­ne Veränderungen reagie­ren konn­te. Die «Performer» gaben einen Teil ihrer Freiheit und Selbstbestimmung auf, ver­dien­ten dafür gut und wohn­ten in luxu­riö­sen Wohnungen. Einmal im Jahr durf­ten sie rege­ne­ra­ti­ve Zentren besu­chen. Um die Produktivität auf­recht­erhal­ten zu kön­nen, wur­den sie nicht sel­ten mit lei­stungs­stei­gern­den Medikamenten voll­ge­pumpt. Oder wie die «Wolke» es for­mu­lier­te: syn­the­ti­siert und opti­miert. Das Gesundheitssystem funk­tio­nier­te ein­wand­frei, da das Wachstumsdiktat das wich­tig­ste Gesetz der Wolke war.

Der Lebensrhythmus der «Aussteiger» wur­de hin­ge­gen von der Natur dik­tiert und war kör­per­lich anstren­gen­der. Wenn die Sonne auf­ging, wur­den die Kühe und Ziegen gemol­ken. Anschliessend wur­de der Acker bear­bei­tet. Der Vormittag dien­te der Produktion der lebens­not­wen­di­gen Erzeugnisse, wel­che in der Gemeinschaft auf­ge­teilt wur­den. Am Nachmittag setz­ten die «Aussteiger» in der Regel per­sön­li­che Projekte um. Gearbeitet wur­de aber täg­lich, von Montag bis Sonntag und bis die Sonne unter­ging. Es gab zudem kei­ne Ferien. Die «Aussteiger» besas­sen ledig­lich eine Telefonzentrale pro Kommune und schränk­ten die Kommunikation mit der Aussenwelt ein. Ihr Gesundheitssystem war spar­ta­nisch auf­ge­baut und eher auf Arbeitsunfälle spe­zia­li­siert. Krankheiten waren hin­ge­gen eine Seltenheit.

Die «Aussteiger» und die «Performer» respek­tier­ten ihre jewei­li­gen Gebietsgrenzen. Konflikte gab es sel­ten. Das fried­li­che Gleichgewicht wur­de erst im Jahr 2049 gestört. Die Fruchtbarkeit der «Performer» hat­te in den letz­ten Jahren rapi­de abge­nom­men. Die «Wolke» hat­te alles Mögliche unter­nom­men, damit wie­der Kinder gezeugt wer­den konn­ten: sie hat­te wider­wil­lig für mehr Freizeit gesorgt, liess neue Pheromone und che­mi­sche Präparate ent­wickeln, damit die Libido der Menschen gestei­gert wer­den konn­te. Der feh­len­de Nachwuchs wur­de aber zum gesell­schaft­li­chen Problem. Die Arbeitskräfte gin­gen suk­zes­si­ve aus und die Wirtschaft begann zu stot­tern. Der Entschluss der zen­tra­len Datenbank war fol­gen­schwer: es muss­ten neue Arbeitskräfte rekru­tiert wer­den. Und nur wir, die «Aussteiger», kamen für die­se Arbeit in Frage. Zunächst wur­de uns ein fried­li­ches Angebot unter­brei­tet: Arbeit für viel Geld. Als wir «Aussteiger» freund­lich aber bestimmt ablehn­ten, änder­te die «Wolke» ihre Politik abrupt: Zunächst wur­den Jugendliche im zeu­gungs­fä­hi­gen Alter ent­führt, dann Frauen und schliess­lich gan­ze Menschenmassen depor­tiert. Wir haben uns gewehrt, waren aber mili­tä­risch deut­lich unter­le­gen. Wir zäh­len jetzt das Jahr 2056. Zumindest gehen wir davon aus. Wir hal­ten tap­fer zusam­men und wer­den bis zum letz­ten Atemzug für unse­re Menschlichkeit und Entscheidungsfreiheit kämp­fen. Gestern haben wir wie­der eine posi­ti­ve Nachricht erhal­ten: ein wei­te­rer Konvoi von «Abtrünnigen» hat unse­re Grenze unver­sehrt pas­siert. Immer mehr «Performer» ver­las­sen frei­wil­lig ihre Zonen und wer­den selbst zu «Aussteigern». Werden die Karten jetzt neu gemischt? Ich weiss nicht, wie die Geschichte genau anfing und wie sie enden wird. Aber jetzt bin ich mit­ten drin und wer­de sie direkt beein­flus­sen.

Foto: zVg.
ensuite, März 2014