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(M)Otherland und Kleopatra: Die Kunst archäo­lo­gi­scher Erzählungen

Von Dr. Regula Stämpfli – Die israe­li­sche Künstlerin Ruth Patir gehört zu den besten Videokünstlerinnen unse­rer Zeit. Deshalb wur­de sie zur Biennale 2024 in Venedig ein­ge­la­den, denn ihre Ausstellung (M)Otherland ver­sprach, KI und femi­ni­sti­sche Kunst auf ganz unge­wöhn­li­che Weise zu ver­bin­den. Die Ausstellung wur­de «aus Gründen» abge­sagt, der israe­li­sche Pavillon blieb in Venedig zuge­sperrt.

In Tel Aviv hat­te ich in die­sen Wochen die Gelegenheit, die Ausstellung von Ruth Patir zu besu­chen, und war über­wäl­tigt. Ihre eige­ne Geschichte, eine von gene­ti­schem Defekt und Fruchtbarkeitsideologie im Staate Israel geform­te Story, ver­packt sie in Gespräche, Figuren, reflek­tiert Fortpflanzungstechnik und Archäologie. Die Künstlerin, ihre Mutter, ihr Geliebter, die demon­strie­ren­den Frauen agie­ren in den Filmen als anti­ke Venusfiguren, spre­chen mit Originalstimmen. Selten wur­de ich mit sol­cher Wucht mit unse­rer bio­po­li­ti­schen Gegenwart und mei­ner eige­nen Körperlichkeit kon­fron­tiert. Ein Thema übri­gens, das ich in den «Nächten der Philosophie» im Mai in Wien, natür­lich im Café Korb, noch näher ver­tie­fen wer­de.
Patir bringt den weib­li­chen Körper, Fruchtbarkeit und Mutterschaft in den Kontext poli­ti­scher Repräsentation – ohne in Klischees zu ver­fal­len. Die zen­tra­le Figur: eine com­pu­ter­ge­nerier­te Frau, eine Art hybri­de Göttin der Reproduktionsmedizin, die sowohl ver­letzt als auch mäch­tig erscheint.

Zwischen Erschöpfung, Aufbegehren und Intimität ver­han­delt Patir die Grenzen des eige­nen Körpers, aber auch die patri­ar­cha­len Erwartungen an Weiblichkeit und Nation. (M)Otherland ist nicht nur ein Kommentar auf den bio­po­li­ti­schen Zugriff auf weib­li­che Körper im Patriarchat, son­dern eine uni­ver­sel­le Reflexion über Kontrolle, Zeit und das Erbe der Mutterschaft. Die Arbeit ist eben­so poli­tisch wie poe­tisch und histo­risch.

Wie schon erwähnt, ver­leiht Patir den Körpern per Computer gene­rier­te uralte Venusfigürchen, wie sie in Israel wie in Europa tau­send­fach bei Ausgrabungen gefun­den wer­den. So wird die Geschichte von Göttinnen, Müttern, Fruchtbarkeit und Sexualität und Frauen auf völ­lig neue Art und Weise ver­wo­ben, was zufäl­li­ger­wei­se mit der neu­sten archäo­lo­gi­schen Forschung zusam­men­trifft.

Venusfiguren sind auch der Gegenstand von Karin Bojs’ «Mütter Europas. Die letz­ten 43  000 Jahre». Ausgehend von der sog. «Venus von Willensdorf», die eigent­lich ganz klas­sisch kei­ne Aphrodite, son­dern eine wun­der­schö­ne, post­men­struel­le Frau dar­stellt, erzählt Karin Bojs die Menschheitsgeschichte völ­lig neu. Über 150 Jahre wur­den die Wissenschaftlerinnen aus­ge­lacht, die behaup­te­ten, dass die Steinzeit nicht mit Jägern und Sammlerinnen, also ent­lang der geschlechts­s­te­reo­ty­pen Funktionen, ope­rier­te, son­dern matri­li­ne­ar, matri­ar­chal und mit vie­len weib­li­chen Göttinnensymbolen kon­sti­tu­iert war. Die post­ko­lo­nia­len Historikerinnen ver­leug­nen das mit den Archäologie-Patriarchen des 19. Jahrhunderts bis heu­te, weil sie Matrilinearität aus­schliess­lich indi­ge­nen Gesellschaften zuge­ste­hen wol­len. In post­ko­lo­nia­len Augen gehen Patriarchat und Imperialismus und Westen Hand in Hand – was ein archäo­lo­gi­scher Fehler ist, denn Europa war matri­li­ne­ar, Persien war matri­li­ne­ar.
Karin Bojs’ Buch geht so weit, fest­zu­stel­len, dass das bis vor Kurzem von der klas­si­schen Altertumswissenschaft bestrit­te­ne Matriarchat in Europa nicht nur Tausende von Jahren bestan­den haben muss, son­dern nur bru­tal mit den Raubzügen patri­ar­cha­ler Männerhorden aus dem Osten been­det wur­de. Eine Vernichtung von weib­li­cher Geschichte, die bis heu­te blu­ti­ge Spuren zeigt. Die Vergewaltigung Europas durch Zeus, von der uns die klas­si­schen Sagen des Altertums berich­ten, wird in die­sem Lichte betrach­tet vom Mythos zum Logos, vom Fleisch zum Wort. Die unter­schied­li­chen Venusfiguren wer­den in der Literatur nun also völ­lig neu inter­pre­tiert – und die Künstlerin Ruth Patir hat dies in ihrem Werk sehr klug zum Ausdruck gebracht. In der her­kömm­li­chen Archäologie wur­den die Tongöttinnen sexi­stisch als Pornofiguren der Steinzeitmänner bezeich­net – die Wahrheit könn­te nicht wei­ter ent­fernt sein. Es waren matri­lo­ka­le Kulturen, deren Bedeutung aus ideo­lo­gi­schen Gründen jahr­hun­der­te­lang ver­nach­läs­sigt wur­de.

Die Biologie spricht nun ein stren­ges Machtwort gegen Ideologien von links bis rechts. Gene pfle­gen näm­lich nicht zu lügen. DNA-Analysen zei­gen: Steinzeitfrauen haben ande­re Gene als Steinzeitmänner. Und die gefun­de­nen Artefakte pas­sen in die­se unter­schied­li­chen Frau-Mann-Schemata, die sich aus­ser­dem als ritu­el­le Unterschiede von Göttinnen-Kult und Phallus-Kult fest­stel­len las­sen. Es waren die indo­ger­ma­ni­schen Migrationsströme, die matri­li­nea­re Kulturen in Europa in patri­lo­ka­le Gesellschaften umbau­ten, so die neu­ste Forschung. Und zwar so, wie es uns in einem ande­ren Mythos, näm­lich dem der «Raub der Sabinerinnen», erzählt wird. Eine Erzählung nicht nur als Metapher, son­dern als Menschheitsgeschichte: der Überfall von Männerhorden zwecks syste­ma­ti­scher patri­ar­cha­ler Ausbeutung, Aneignung und Unterwerfung des weib­li­chen Körpers durch kol­lek­ti­ve männ­li­che Gewalt. Wie aktu­ell die­se Erzählung ist, zei­gen die Taliban in Afghanistan; eine abscheu­li­che Gegenwart, lei­der viel zu sel­ten in unse­ren Medienberichten erschei­nend – tja, es geht eben «nur» um Frauen, da haben wir es wie­der. Die Menschheitsgeschichte zeigt, wie das weib­li­che Echo jahr­tau­sen­de­al­ter Stimmen immer schwä­cher wird. Gerade das Zeitalter digi­ta­ler Reproduktion lässt Frauen als Körper zugun­sten eines Sprechaktes ver­schwin­den: Sexuelle Gewalt gekop­pelt mit ideo­lo­gi­schen Löscharbeiten von weib­li­cher Macht und Freiheit lässt sich in der Geschichte der Menschheit lei­der viel zu oft nach­wei­sen.

Umso wich­ti­ger die Erinnerung. Deshalb emp­feh­le ich zum Schluss auch noch das neue Werk von Ann-Cathrin Harders, «Kleopatra. Ägyptens letz­te Königin». Der schma­le Band in der «Wissen»-Reihe von C.H. Beck ist extrem auf­schluss­reich, gut geschrie­ben und wahn­sin­nig span­nend. Wir erfah­ren in «Kleopatra» nicht nur viel über Göttinnen, Geschwisterehen und den Untergang des Pharaonentums, son­dern neben­bei auch ganz coo­len Klatsch aus der Antike. Kleopatra war zwei­mal mit einem eige­nen Bruder ver­hei­ra­tet: mit Ptolemaios XIII., nach des­sen Tod mit Ptolemaios XIV. Kinder krieg­te Kleopatra von ihren Brüdern kei­ne, dafür eines von Julius Caesar, mit dem sie nicht ver­hei­ra­tet war, und drei von Marcus Antonius – herr­lich dar­ge­stellt im Hollywoodfilm «Cleopatra» mit der unver­gleich­li­chen Elizabeth Taylor. Ann-Cathrin Harders geht der letz­ten gros­sen matri­ar­chal inspi­rier­ten Herrscherin Kleopatra mit gros­sem archäo­lo­gi­schen Wissen nach. Weibliche Herrschaft war in Rom unbe­kannt, des­halb waren schon die Zeitgenossen fas­zi­niert von einer Frau, deren Macht sich über Weltreiche aus­brei­ten konn­te. Kleopatra resi­dier­te wäh­rend ihres Romaufenthaltes unter Julius Caesar wie eine Königin, was den prü­den Cicero unheim­lich ärger­te. «Ich has­se die Königin! – Reginam odi!» schrieb der gros­se Rhetoriker empört an Atticus. Dies nicht zuletzt, weil Caesar für die «Venus Genetrix» kurz vor sei­nem Tod noch eine neue Goldstatue in Auftrag gege­ben hat­te und in den Tempel stell­te: Es war ein Abguss von Kleopatra, nackt, wie sie die römi­schen Mythen schu­fen. Ann-Cathrin Harders erzählt genüss­lich von die­sem Skandalon, das die Zeitgenossen damals extrem beschäf­tigt haben muss. Wäre Caesar nicht ermor­det wor­den, wer weiss, wie die Geschichte Roms unter dem Einfluss von Kleopatra noch wei­ter­ge­gan­gen wäre. Denn die Pharaonin war nicht nur schön, son­dern vor allem unglaub­lich cle­ver: Sie bot Caesar Stabilität im Osten an, ver­bes­ser­te die Finanzen des gesam­ten Römischen Reiches. Ägypten war die Getreidekammer der Antike, lie­fer­te auch Öl, Papyrus, Textilien, Parfüm; über die ägyp­ti­schen Häfen lief der Handel mit Arabien und Indien. Und Kleopatra, wie die Pharaoninnen vor ihr, war eine durch­aus wür­di­ge Herrscherin, die die mul­ti­na­tio­na­len Geschäfte Ägyptens durch­aus im Griff hat­te. Caesar sicher­te im Gegenzug die Herrscherin und deren Traditionen.

Pharaoninnen stan­den seit jeher als Göttinnen für Ehe, Mutterschaft, Fruchtbarkeit und Ernte, Isis als älte­ste Gottheit im ägyp­ti­schen Pantheon wur­de über­all ange­be­tet. Kleopatra füg­te durch den Kontakt mit den Römern den Symbolen eines hin­zu: die Venus. Diese soll­te sich als bestim­men­de Frauenfigur auch lan­ge nach dem Untergang Ägyptens und Roms durch­set­zen. Von Plutarch bis Shakespeare und Hollywood, Kleopatra beschäf­tigt bis heu­te, und zwar nicht zuletzt, weil mit ihr nicht nur die Person, son­dern auch ihr Reich und die Tradition weib­li­cher Herrschaft ende­ten. «Kleopatra wird damit zu einer Leerstelle, die immer wie­der neu inter­pre­tiert wer­den kann, zu einem ‹mythi­schen Zeichen›, das als Projektionsfläche für unter­schied­lich­ste Konflikte auf­ge­ru­fen und ver­stan­den wer­den kann», meint Ann-Cathrin Harders in ihrem Buch.

Matrilineare Spuren
Kleopatra, Herrscherin über Nil, Macht und Begehren, wird bis heu­te durch den Schleier west­li­cher Projektion gese­hen – ent­we­der als Hure oder als Hexe. Dabei war sie eine Staatsfrau von unfass­ba­rem Format, die in einer Welt aus Männermorden die Kontrolle behielt – über Flotten, Intrigen und Sprache. Sie sprach neun davon. Die mei­sten kön­nen nicht mal eine rich­tig.

Maria, die jung­fräu­li­che Mutter, ist eigent­lich eine radi­ka­le Figur. Sie gebiert Gott, ohne männ­li­che Beteiligung. Was für eine sub­ver­si­ve Idee! Sie wird zur «Königin des Himmels» erho­ben – ein Titel, der einst Ishtar, Isis, Kybele galt. Die Kirche hat ver­sucht, sie unschäd­lich zu machen. Hat sie auf Podeste gestellt, wo man sie als ech­te Frau nicht wirk­lich sehen, son­dern nur anbe­ten darf.

Europa, die von Zeus Entführte, rei­tet auf einem Stier aus Gewalt in unse­re Vorstellungskraft. Aber ich sehe in ihr kei­ne pas­si­ve Jungfrau. Ich sehe eine Frau, die sich nicht ein­sper­ren lässt – weder in den Götterhimmel noch in die Archive der Männergeschichte. Europa ist Bewegung, ist Mischung, ist Widerstand, der lebt, trotz Domestikation.

Fazit: Die Wiege Europas war weib­lich. Nicht in der kit­schi­gen Göttinnensymbolik, son­dern in der rea­len, matri­li­nea­ren Macht der frü­hen Zivilisationen: Ägypten, Kreta, Mykene, Etrurien. Dort ent­schie­den Frauen über Land, Rituale, Legitimation. Patriarchale Systeme exi­stier­ten – aber sie waren gezähmt, gebän­digt, durch­wo­ben mit der Logik des Weiblichen.

 

Leseliste
– Karin Bojs: Mütter Europas. Die letz­ten 43 000 Jahre.
– Ann-Cathrin Harders: Kleopatra. Ägyptens letz­te Königin. CH Beck Wissen.
-(M)Otherland von Maayan Sheleff (Herausgeberin), Ruth Patir (Autorin), Taschenbuch 2021.