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Die alter­na­tiv­lo­se Fiktion der Streamingdienste

Von Dr. Regula Stämpfli - Isaac Newton behaup­te­te 1687: «Ich kann die Bewegung des Himmelskörpers berech­nen, nicht aber das Verhalten der Menschen.» Falsch. Netflix, Amazon, Google, Facebook, Twitter, Instagram, Apple, IBM, Baidu, Alibaba, Tencent, Microsoft bau­en mit Verhaltenskalkulationen grad die Welt neu. Paradox dar­an ist: Ihre Gewalt braucht kei­ne Waffen, nur noch Algorithmen und ent­spre­chen­des Storytelling.

Klischeetussis (Frauen blei­ben Körper, egal wel­chen Part sie spie­len), Pop-Porn, Apokalypse, Reality-Elemente, spek­ta­ku­lä­re Effekte, ker­ni­ge Männer, zele­brier­te bipo­la­re Störungen, Aspergersyndrom, VerHERRlichung ara­bi­scher Clans, Rap-Glory bri­ti­scher Underclasses, ras­si­sti­sche Victimheroisierung, sexu­el­ler Missbrauch, detail­ver­lieb­te Gewaltszenen etc. bie­ten die post­de­mo­kra­ti­schen Erzählstrukturen. Alles ist per­sön­lich. Seit «The Apprentice» von Donald Trump herrscht auch in der Wirklichkeit die insze­nier­te Realität, die alter­na­tiv­lo­se Fiktion der Streamingdienste. Dies geschieht vor unser aller Augen und wird doch nicht gese­hen.

Dank den Behaviouristen gibt es schon längst kei­ne guten oder schlech­ten Filme mehr, son­dern nur noch «Kunden, die die­sen Artikel gekauft haben, kauf­ten auch xy». Dabei fällt kaum auf, dass alles, was die Streamingdienste geni­al macht, wenig mit den Plattformen, son­dern mit Politik zu tun hat. Serien wie «Chef’s Table», «Chernobyl», «Good Omens», «Fauda», «Fargo», «The Witcher», «Ragnarök», «Modern Family», «Sex Education», «Black Mirror», «Versailles», «Tatortreiniger», «Broadchurch», «Shtisel» etc. trans­for­mie­ren mensch­li­che, d. h. poli­ti­sche Erfahrungen in Geschichten. So weit, so gut. Doch dies sind Ausnahmen. Wichtiger ist den Streamingdiensten die Propagierung einer «zwei­ten Wirklichkeit» (Georg Seesslen): Lebewesen sol­len in Datenpaketen ver­packt, mög­lichst viel kon­su­mie­ren: Einzelwesen, ein­ge­sperrt in den Plattform-Totalitarismus kal­ku­lier­ter Privatsphäre.

Wer mit poli­ti­schen Augen guckt, erkennt sofort, dass real­po­li­ti­sche demo­kra­ti­sche Erfolge web­mäs­sig mit phal­li­schen Signalen, kämp­fen­den Männerkörpern und in jeder Hinsicht gefick­ten Frauen mit­tels Storytelling ver­nich­tet wer­den. Zwar mein­te Marx noch, die ver­schie­de­nen Interpretationen über die Welt sei­en so unwich­tig wie die Philosophen, denn man müs­se die Welt und nicht die dazu­ge­hö­ri­gen Phantasmen ver­än­dern. Wrong: Netflix et al. demon­strie­ren seit über zehn Jahren das Gegenteil.