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100% Übereinstimmung oder Die Liebeslüge

Von Fabienne Naegeli – Die Berner Produktionsgemeinschaft MYDRIASIS zeigt in der Regie von Magdalena Nadolska die Uraufführung von «Mutter Hausfrau Vater Arzt». Der urba­ne Schwank von Livia Huber ent­stand im Autorenförderprogramm DRAMENPROZESSOR und war das Gewinnerstück des Jahrgangs 2011/12.

Kontakte über das Internet zu knüp­fen und so sein Liebesglück zu fin­den ist für heu­ti­ge Generationen völ­lig nor­mal. Online-Partnerbörsen boo­men. Sie erwei­tern unkom­pli­ziert die Auswahl an mög­li­chen PartnerInnen und las­sen das Selbst durch die Art der Präsentation zu einer öffent­lich aus­ge­stell­ten Ware wer­den. Das Selbst muss wäh­len und sei­ne Optionen maxi­mie­ren. Es ist gezwun­gen, Kosten-Nutzen-Analysen und Effizienzberechnungen durch­zu­füh­ren, sowie nach Wegen zur Verbesserung der eige­nen Marktposition zu suchen. Auf die­se Art und Weise die gro­ße Liebe zu fin­den ist in man­cher Hinsicht ver­gleich­bar mit der Führung eines Wirtschaftsunternehmens.

Leos Eltern sind Inhaber der erfolg­rei­chen Internet-Partnervermittlungsbörse «Two-Hope». Der char­man­te 24-jäh­ri­ge, finan­zi­ell ver­wöhn­te Student wür­de die Agentur ger­ne über­neh­men. Doch Silas und Lisa haben die Überschreibung der Firma an eine Bedingung geknüpft: Der Nachfolger muss eine Frau fin­den, mit der er zu 100% über­ein­stimmt, denn je höher der Übereinstimmungsprozentsatz, desto wahr­schein­li­cher ist es, dass die Beziehung hält. Silas und Lisa, angeb­lich selbst ein sol­ches Dream Team, wol­len auch in Zukunft ein Ideal-Paar an der Spitze von «Two-Hope» haben, das den Massstab für ihre KundInnen dar­stel­len kann. Um die Bedingung zu erfül­len, hat Leo eine Freundin erfun­den. Nun aber kom­men die Eltern zu Besuch, da sie die Zukünftige ihres Sohnes ken­nen­ler­nen möch­ten. Leo enga­giert des­halb Lilit, 28 Jahre alt, Prostituierte und Studentin der dar­stel­len­den Künste. Sie soll gegen Bezahlung sei­ne Superfreundin spie­len. Die Ahnungslose kommt zwar zu spät zum Treffen, wil­ligt zu Leos Glück aber ein. An die­sem Abend, so Leos Plan, soll Lilit Lena hei­ßen, damit sie zwei Buchstaben mit sei­nem Vornamen gemein­sam hat. Kennengelernt hät­ten sie sich an der Uni, erzählt er ihr. Ihre Mutter sei Hausfrau, ihr Vater Arzt. Wie Leo sei sie 24 Jahre alt, Einzelkind, ohne Geldsorgen, sen­si­bel, kön­ne kochen und trin­ke kaum Alkohol. Zudem hat er Lilit eine Liste mit Themen erstellt, die sie auf kei­nen Fall anspre­chen darf, und ein Kleid gekauft, wel­ches ihr lei­der über­haupt nicht passt. Doch da ertönt bereits die Türklingel. Nun gibt es kein Zurück mehr. Der Abend mit Unmengen von Wein, Liebestests und Beziehungsfragen beginnt.

Krampfhaft ver­sucht Leo das Bild des per­fek­ten Paares zu kre­ieren und hofft, dass die Lüge nicht auf­fliegt. Lena hat zuneh­mend Spass am Rollenspiel und lässt immer wie­der Lilit durch­blicken. Der Vater erkennt das wah­re Gesicht von Lena und ver­sucht zu ver­mei­den, dass sei­ne Frau davon erfährt, und Leo mit einer Prostituierten sein Lebenswerk zer­stört. Mutter Lisa hin­ge­gen will «Two-Hope» los­wer­den und um die Welt rei­sen. Die ver­meint­li­che Familienidylle bröckelt ordent­lich an die­sem Abend. Man ver­sucht Konflikte zu umge­hen, redet anein­an­der vor­bei, bricht Sätze ab und sagt nichts. Die Situation droht zu eska­lie­ren.

Magdalena Nadolskas Inszenierung der Komödie «Mutter Hausfrau Vater Arzt» ver­zich­tet auf jeg­li­chen Realismus, um das Absurde und die Ungemütlichkeit die­ses Abendessens sicht­bar zu machen. Die Kulisse besteht aus gefüll­ten und lee­ren Kartonschachteln, wel­che die SchauspielerInnen zu Möbeln und Requisiten umbau­en und zurecht­schnei­den. Animierte Fotocollagen, die asso­zia­tiv unaus­ge­spro­che­ne Möglichkeiten arti­ku­lie­ren und Konsequenzen der Konflikte ima­gi­nie­ren, wer­den in die Szenen rein­ge­schnit­ten, und, um die Behauptung einer per­fek­ten Beziehungskiste aku­stisch auf­blit­zen zu las­sen, erklin­gen hoch emo­tio­na­le 100%-Love-Songs.

Mit: Michael Glatthard, Newa Grawit, Michael Hasenfuss, Lea Schmocker. Text: Livia Huber. Regie: Magdalena Nadolska. Video-Animation: Michael Spahr. Ausstattung: Beni Küng, Sara Rassouli. Dramaturgie/Produktionsleitung: Mathias Bremgartner.

Foto: zVg.
ensuite, Februar 2014